Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Harry Walter hatte 1972 den zentralen Slogan zur Bundestagswahl so formuliert: »Deutsche. Wir können stolz sein auf Willy Brandt.« Brandt betrachtete den Entwurf skeptisch und meinte: »Mein Kopf ist doch groß genug auf dem Plakat!« Daraufhin korrigierte er und schlug stattdessen vor: »Deutsche. Wir können stolz sein auf unser Land.« So blieb es.
Ob ein Charismatiker wie Brandt heute noch Chancen hätte? Die digitale Gesellschaft, die unentwegt kontrolliert, Info-Nachschub verlangt, durchleuchtet, kommentiert, deutet und zerzaust, duldet keine Schweigezonen, toleriert keine Arkana, transparent soll alles sein, einsehbar und nachzuvollziehen. Wir leben in anticharismatischen Zeiten, obwohl sich alle nach Charisma sehnen. Authentizität ist der höchstbezahlte Artikel der Mediengesellschaft, und sobald diese irgendwo gesichtet wird, ist sie auch schon vernichtet. Ein charismatischer Bengel wie Karl-Theodor zu Guttenberg bleibt nur als inszenierter Hochstapler in Erinnerung, ein Mann ohne echte Geschichte, der sich eine Zeitlang von der Charisma-Sehnsucht nährte, aber dann tief fiel, weil seine Biographie nicht hielt, was die Hochglanz-Bilder versprachen.
Effizienzen regieren, schlechte Zeiten für Charismatiker.
Sucht die Geschichte noch einen Erzähler?
Willy Brandt war kein gläserner Mensch.
Alles wird durchleuchtet, Aussichten finster.
Mehr Gefühl wagen
»In der Politik hat keine Emotion und keine Leidenschaft Platz außer der Leidenschaft zur Vernunft.«
Helmut Schmidt
Die Familie Brandt forderte Willy Brandt heraus, ängstigte ihn, gab ihm das Gefühl, ihr nicht gewachsen zu sein, schürte in ihm die Furcht, sich selbst zu versäumen, weil er selbst in Kindheit und Jugend nie gefunden hatte, was diese, seine Kinder und seine Frau suchten: Nähe, Geborgenheit, geteilte und gemeinsam gelebte Intimität. Brandt war kein Mann, der gefühllos war oder zu wenig Gefühl besaß, sein Problemtalent (vielleicht seine Tragik) war, dass er ein Übermaß an Gefühlen besaß, unerwiderte, gestaute Gefühle, verborgene, nie zur Sprache oder zum Körper gebrachte Gefühle, schlecht ausgebildete, verletzte, beschädigte, niemals befreite Gefühle, die ihm als Politiker faszinierende Tiefe verliehen, als Privatmann aber in Einsamkeit bannten.
Sein liberaler Weggefährte Walter Scheel hat Brandts Problemtalent erkannt und gewusst, was es für die Bundesrepublik bedeutete. Der emotional eher nüchterne Liberale lässt Brandt einige Wochen nach dessen Rücktritt vom Bundeskanzleramt eine ungewöhnlich private Nachricht zukommen. Er schreibt am 27. Juni 1974: »Gefühlswerte, die in der Vergangenheit in der Politik allzu häufig nur in demagogischer Absicht oder gar pervertiert genutzt wurden, finden Glauben. Sie wissen, daß ich immer die Meinung vertreten habe, daß nur eine außergewöhnliche Häufung von Zufällen einen Mann Ihrer Struktur an die Spitze der Regierung bringen konnte. Aber die Zeit hat sich gelohnt!« Obwohl Brandt Scheel im Innersten fremd bleibt (»ein Mann Ihrer Struktur«), respektiert er doch die so ganz andere psychologisch-politische Biographie seines Partners und bilanziert, dieser habe »Gefühlswerte« eingebracht, die »Glauben finden«.
Erst in und an dem Kanzler Brandt entdeckte die Bundesrepublik ihre kollektiven Gefühle, er war ein Gefühlsprovokateur. Der erste Nachkriegskanzler Adenauer, der mit dem Slogan »keine Experimente!« für sich und die CDU warb, hätte genauso gut sagen und fordern können »keine Gefühle«, denn der Alte aus Rhöndorf fand, dass Gefühle in der Politik nichts zu suchen hatten, erst recht nicht nach den pervertierten und extremistisch gesteigerten Gefühlsströmen des »Dritten Reiches«. Die emotionale Zustimmung zum Diktator war das Band, das die »Volksgemeinschaft« zusammenhielt. Das einzige Gefühl, das Konrad Adenauer instrumentalisierte, das er kühlen Kopfes aufgriff und in Parolen presste, war die Angst vor den »Sofjets«. Willy Brandt urteilt in »Begegnungen und Einsichten«: »Adenauer war in der Tat das Gegenteil eines gefühlsbetonten Mannes.« Tatsächlich war der »Alte« ein kalter Kanzler, ein runzliger Altvater, in dessen Obhut man sich begab, der jedoch kein Gefühl forderte, sondern nur Wahlurnengefolgschaft. Vielleicht noch das: Das Trümmerland Deutschland suchte einen unzertrümmerten Führer: das war Adenauer. Der frühere Bürgermeister von Köln wurzelte als Politiker noch tief im 19. Jahrhundert, er war lange vor und
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