Die Farben der Magie
seltsame Vorstellungen.«
»Was ist mit ihm passiert?«
»Wie ich schon sagte: Es hat hier einmal gelebt.« Die Dryade stand auf und streckte die Hand aus. »Komm. Ich heiße Druellae. Begleite mich und beobachte das Schicksal deines Freundes. Es wird bestimmt interessant.«
»Ich bin nicht sicher, ob…«, begann Rincewind.
Die Baumnymphe blickte ihn aus grünen Augen an.
»Glaubst du etwa, daß du eine Wahl hast?« fragte sie.
E ine Treppe, so breit wie eine breite Straße, reichte nach oben durch den Baum, und an jedem Absatz führten Torbögen in große Zimmer. Überall glühte das seltsame gelbe Licht. Rincewind nahm ein leichtes Geräusch wahr und konzentrierte sich darauf: Es klang nach einem leise grollenden Gewitter oder wie ein ferner Wasserfall.
»Es ist der Baum«, sagte die Dryade knapp.
»Was tut er?« erkundigte sich Rincewind.
»Er lebt.«
»Ich habe schon darüber nachgedacht. Ich meine, sind wir hier wirklich in einem Baum? Bin ich kleiner geworden? Von außen sah der Stamm dünn genug aus, um die Arme darumzuschlingen.«
»Da hast du vollkommen recht.«
»Äh, trotzdem bin ich jetzt hier drin?«
»Ja.«
»Äh«, sagte Rincewind.
Druellae lachte.
»Ich weiß, was dir durch den Kopf geht, falscher Zauberer! Immerhin bin ich Dryade. Begreifst du denn nicht, daß jene pflanzliche Entität, die du abwertend als ›Baum‹ bezeichnest, das vierdimensionale Analogon eines multidimensionalen Universums ist und… Nein, offenbar verstehst du es wirklich nicht. Mir hätte gleich klar sein müssen, daß du kein richtiger Zauberer bist. Schließlich hast du keinen Zauberstab.«
»Er verbrannte in einem Feuer«, erwiderte Rincewind automatisch. »Keinen Hut mit aufgestickten magischen Symbolen.«
»Vom Wind fortgeweht.«
»Keinen Intimus.«
»Er starb. Hör mal, besten Dank dafür, daß du mich gerettet hast, aber wenn du gestattest, breche ich jetzt wieder auf. Bitte sei so freundlich und zeig mir den Weg nach draußen…«
Irgend etwas in Druellaes Gesicht veranlaßte Rincewind, sich umzudrehen. Hinter ihm standen drei männliche Dryaden, ebenso nackt wie die Frau, und unbewaffnet. Letztere Eigenschaft spielte jedoch keine Rolle: Die Männer sahen nicht so aus, als benötigten sie Waffen, um den Zauberer zu überwältigen. Sie schienen in der Lage zu sein, sich mit den Schultern einen Weg durch festen Fels zu bahnen und anschließend ein ganzes Regiment von Trollen in die Flucht zu schlagen. Die drei stattlichen Riesen starrten auf Rincewind herab, und in ihren Blicken kam eine unübersehbare Drohung zum Ausdruck. Die Farbe ihrer Haut entsprach der von Walnußschalen, und darunter wölbten sich Muskeln wie Melonensäcke.
Rincewind drehte sich zu Druellae um und lächelte unsicher. Das Leben nahm wieder vertraute Formen an.
»Ich bin nicht gerettet, oder?« fragte er. »Ich bin gefangen, stimmt's?«
»Natürlich.«
»Und vermutlich willst du mich nicht freilassen.« Es war keine Frage, sondern einer Feststellung.
Die Dryade schüttelte den Kopf. »Du hast den Baum verletzt. Aber du kannst von Glück sagen: Dein Freund begegnet Bel-Shamharoth; du stirbst nur.«
Zwei Hände packten Rincewind von hinten an den Schultern (mit der gleichen Entschlossenheit rollen sich alte Baumwurzeln um einen Kieselstein).
»Selbstverständlich wird man dich im Verlauf einer angemessenen Zeremonie hinrichten«, fuhr die Baumnymphe fort. »Nachdem die Gefährliche Acht mit deinem Freund fertig ist.«
Dem Zauberer fiel keine passende Antwort ein. Er brachte nur hervor: »Weißt du, ich habe immer gedacht, es gäbe keine männlichen Dryaden. Nicht einmal in einer Eiche.«
Einer der Riesen hinter ihm grinste.
Druellae schnaubte abfällig. »Dummkopf! Woher kommen deiner Meinung nach dann die Eicheln?«
Sie setzten den Weg über die Treppe fort, und kurze Zeit später erreichten sie einen großen saalartigen Raum, dessen Decke sich im goldenen Dunst verlor.
Mehrere hundert Dryaden warteten am anderen Ende des Saals. Sie traten respektvoll beiseite, als sich Druellae näherte. Niemand von ihnen beachtete Rincewind, der nur deshalb in Bewegung blieb, weil ihn die Riesen immer wieder von hinten anstießen.
Die meisten hier anwesenden Dryaden waren weiblichen Geschlechts, aber der Zauberer erkannte auch einige hünenhafte Männer: Wie götterartige Statuen standen sie zwischen den kleinen intelligenten Frauen. Insekten, dachte Rincewind. Der Baum ist wie ein Bienenstock.
Aber warum wohnten hier überhaupt
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