Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)
wieder auf die Straße.
Das Pflaster ist uneben und schlecht. Unter den lockeren Pflastersteinen dringt jedes Mal, wenn ich drauftrete, lehmiges Wasser hervor. Die Luken sind nun geschlossen und die Schreie der Verkäufer verstummt. Das Gedränge nimmt ab. Ich überquere den Rinnstein in der Straßenmitte und sehe eine tote Ratte mit ausgestrecktem Schwanz darin liegen. Wagenräder spritzen Schlamm hinter sich in die Höhe. Der in der Luft liegende Geruch ist jetzt unerträglich, als hätte die Kraft des Regens unaussprechliche Dinge aufgewühlt. Es wird dunkler.
Mein Bündel ist nass und lässt sich mit jedem Schritt schwerer tragen. Eine Sänfte schwebt vorüber, ein Finger hebt den Vorhang an, und ein weiß gepudertes Gesicht blickt hinaus. Es ist leichenblass, als würde der Tod höchstpersönlich vorbeiziehen. Ich wende mich fröstelnd ab und versuche, etwas vor mich hin zu summen.
Ich habe noch viel Zeit, die Adresse vor Einbruch der Dunkelheit zu finden, und ich bin mir sicher, dass ich sie finden werde. Als ich wieder um eine Ecke biege, halte ich nach dem Schild des Schuhmachers neben einem Zaun Ausschau, das mir zeigen wird, dass ich fast da bin. Aber es gibt überhaupt keine Geschäfte in dieser Straße, nur einen Laden, in dem Alkohol verkauft wird. Ein Mann ist davor zusammengesunken. Die Menschenmengen sind verschwunden.
Hier kann ich nicht richtig sein.
Die Häuser sind älter und stehen dichter beieinander. Manchmal berühren sie sich fast über die Straße hinweg oder lehnen sich Halt suchend aneinander, als könnten sie jeden Moment einstürzen. In der Luft liegt ein beißender Gestank nach Urin und Fäulnis, der mir die Kehle zuschnürt. Ein Stück weiter auf der Straße lehnt eine Frau mit nackten Füßen und einem zu kurzen, schmutzigen Kleid in einer Türöffnung. Ihre Zehen krümmen sich über die Schwelle. Sie sieht mich unverwandt an, als ich mich nähere.
»Welcher Stadtteil ist das hier?«, wage ich zu fragen, aber ich sehe, dass ihr Blick glasig und ausdruckslos ist.
»Ist es …« Ich stecke die Hand in mein Kleid, um die Adresse von dem Zettel abzulesen, stelle jedoch mit Schrecken fest, dass ich ihn nicht mehr habe. Wo ist er nur? Ich muss ihn irgendwann verloren haben. Die Frau krümmt sich plötzlich zusammen, umklammert ihr schmutziges Mieder und spuckt etwas Dunkles auf das Pflaster. Als sie sich umdreht, taumelt sie und stützt sich mit der Hand an der Wand und an der Tür ab. Hinten auf ihrem Rock ist ein großer Fleck. Durch den Türspalt höre ich einen Säugling schreien, und mein Herz zieht sich zusammen. Es ist das schwache, anhaltende Weinen eines Neugeborenen, und es klammert sich an mir fest, als ich bis zu der Ecke zurückgehe.
Ich biege links in die nächste Straße ein, um das Wimmern abzuschütteln.
Als ich einatme, muss ich mich beinahe übergeben. Meine Füße sind wund vom Laufen auf der unebenen Straße. Ich denke, so muss die Hölle sein, von der die Bibel spricht. Jenes kleine Kind muss in so viel Lärm und Schmutz aufwachsen. Zu Hause war unser Hunger nie so schlimm. Hier scheint der ganze Boden davon durchtränkt zu sein. Er ist wie heimtückischer Schlamm, schlimmer als all der Kot und der Abfall, durch den ich gehe. Ein Mann zischt mir etwas zu, eine lang gezogene, gekeuchte Drohung. Ich renne nicht, obwohl ich starr vor Angst bin. Zwar folgt er mir nicht, aber ich höre, wie hinter mir ein Krug oder eine Flasche zerschmettert wird.
Verzweifelt biege ich von der Hauptstraße in eine weitere Seitenstraße ein. Inzwischen ist mir klar, dass ich mich hoffnungslos verirrt habe.
Die Dämmerung naht, und die Luft wird dunstig. Ich sehe eine Reihe breiter, neuer Häuser mit rechteckigen Fenstern. In einem Raum deckt ein Dienstmädchen den Tisch und verteilt Gläser. Sie hält ein Glas gegen das Licht des Fensters, und als sie es dreht, sieht es eine Sekunde lang aus wie Silber. Mir wird die Brust eng vor Not. Ich sage mir zweimal, dass ich nicht weinen werde, bevor ich es nicht in einer weiteren Straße versucht habe. Ich bin so durstig. Ich lausche dem hallenden Klippklapp von beschlagenen Pferdehufen auf der Straße, schließe die Augen und denke an zu Hause, an den Weg nach Storrington. Wie oft haben Ann und ich mit baumelnden Beinen auf der Steinbrücke über dem Fluss gesessen und die vorüberkommenden Wagen beobachtet.
Auf der Brücke hat mich John Glincy zum ersten Mal angesprochen.
»Wohl nicht viel zu tun, Agnes Trussel!«, hat er
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