Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Segretario«, sagte er, »möchte ich dem Dottore ein paar Fragen stellen.«
»Ihr müsst mich nicht bitten, Avvocato, im Gegenteil, ich wäre Euch dankbar«, erwiderte Formento übertrieben entgegenkommend.
»Was könntet Ihr aufgrund Eurer Erfahrung«, fragte Andrea den Freund, um einen formellen Ton bemüht, wie Luca es bei ihm gehalten hatte, »über den Zeitpunkt des Todes sagen?«
Luca breitete die Arme aus, bevor er sprach.
»Schwer zu sagen. Das Wasser verbirgt die Zeichen des Todes und verzögert die Verwesung. Ihr wisst, wie man sagt: ein Tag an der Luft, zwei Tage im Wasser, vier unter der Erde.« Er wies auf einen grünlichen Fleck, der sich auf der rechten Seite des Bauches gebildet hatte. »Seht, hier kann ich mit Gewissheit sagen, dass die Verwesung des Bauchraums begonnen hat und die Totenstarre zurückgeht.« Er hob die Augen zu Andrea. »Wir können vermuten, aber es ist nur eine Vermutung, dass die Novizin seit zwei oder drei Tagen tot ist.«
»Ich erlaube mir festzustellen«, sagte Formento, »und der Anwalt Loredan kann uns das bestätigen, dass Anna vorgestern Abend noch lebte, denn sie war in der Kirche San Giacomo bei den Exequien einer anderen unglücklichen Nonne zugegen. Und da ihre Mitschwestern erklärt und beeidigt haben, dass sie die Novizin bei der abendlichen Beichte und der Totenwache während jener unseligen Nacht gesehen haben, kommt mir bei Euren Worten, Dottore, der Gedanke, dass die verbrecherische Tat am gestrigen Morgen zwischen Morgendämmerung und Sonnenaufgang, zwischen Matutin und Laudes, begangen wurde.«
Der Sekretär hatte flüssig gesprochen, dabei war sein Blick zwischen den beiden Zuhörern hin- und hergegangen, damit ihm nicht das kleinste Anzeichen von Zustimmung oder Zweifel entging. Doch jeder behielt seine Gedanken für sich.
Andrea dachte an Formentos Gondel, die er in der Nacht des Mordes aus der Richtung der Giudecca hatte zurückkehren sehen, während Formento ihm erzählt hatte, er habe die Nacht im Palazzo verbracht, um dem Dogen beizustehen.
Formento dachte an den Rapport der beiden Sbirren, die an den Fondamenta degli Schiavoni Wachdienst machten und den Sohn des Dogen in jener Nacht zweimal gesehen hatten. Er dachte an den Nachtportier der Locanda della Torre, der erklärt hatte, er habe Ser Loredan kurz vor Sonnenaufgang zurückkehren sehen.
Luca, der den Blickwechsel zwischen dem Sekretär der Zehn und Andrea beobachtete, nahm das Duell wahr, das zwischen den beiden stattfand, und hätte gerne gewusst, was sie mit jenem Leichnam verband. Zumal, aber das würde er erst später sagen, dort zwei Tote lagen: Anna Tagliapietra und die unschuldige Seele des Kindes, das die Novizin im Schoß trug.
47
Alvise Mocenigo war kein Mann, der zur Rührung neigte. Doch als er jetzt durch das Mittelschiff der Kirche San Marco schritt, die Augen auf die Kanzel rechts vom Hauptaltar geheftet, die mit ihrem polychromen Marmor, den mit Intarsien geschmückten Säulen und ihrer vieleckigen Form wie die Spitze eines Turms aussah, stieg Rührung in ihm auf, die ihm die Luftröhre verengte und seine Augen mit Tränen trübte.
Sein Seelenzustand hatte nichts mit dem Gang durch diese Kirche zu tun: Er kannte ihre beeindruckende Architektur aus Kuppeln, geraden Linien, Bögen, Fenstern, Säulen und Marmorverzierungen, die das Gold der Mosaike mit unzähligen Reflexen umgab und zu einem Traum vom Paradies machte. Nein, seine Rührung war von einem Gedanken oder vielmehr ebenfalls einem Traumbild hervorgerufen worden: Alvise Mocenigo, seit drei Jahren Prokurator von San Marco di ultra , außerdem Savio für Ketzerei, ein ganzes Leben im Dienst der Politik und Diplomatie mit allmählichem Aufstieg über verschiedene Machtpositionen, Sitz für Sitz, und einem langen Aufenthalt im Rat der Zehn, auf den er starken Einfluss hatte, träumte sich auf diese Kanzel hinauf, wo er mit ausgebreiteten Armen und geöffneten Händen im Gewand des Serenissimo der Republik seine Treue als Doge gelobte. Ein Gedanke, der ihm den Atem und den Schlaf raubte. Dabei hatte er es bei der letzten Wahl, bei der Loredan triumphiert hatte, schon fast geschafft, doch einige Freunde und bedeutende Wähler hatten ihn verraten. Die Rührung verschwand, sie wurde von einer Mischung aus Zorn und Hass überschwemmt. Das Bild seines Triumphs verflüchtigte sich unter dem Geräusch seiner Schritte, die durch die beschämende Erinnerung zu einem wütenden Stampfen über die Mosaike des Fußbodens aus
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