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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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bei sichtbaren Objekten wie Äpfeln angelangt sind, die bereits massive Atomkonstellationen darstellen, wird der Grad der Ungewissheit vernachlässigbar. Wir können auf einen Apfel zeigen, der an einer definierten Stelle auf einem Tisch liegt, weil der Grad der Ungewissheit für ein Objekt von der Masse eines Apfels so niedrig ausfällt, dass er nicht wahrnehmbar ist. Die Quantenwirkungen sind im Apfel immer noch vorhanden, aber sie bleiben ohne Bedeutung, solange wir nicht in die Atome hineinzoomen, aus denen er sich zusammensetzt. Wenn Geschwindigkeiten oder Massen sehr groß werden, können wegen der Relativität also unsere Begriffe von Raum und Zeit bröckeln; und genauso kollabieren wegen der Quantenwirkungen unsere vertrauten Begriffe von Objekt und Materie, wenn wir auf den Maßstab des Atoms hinuntergehen.
    Das heißt nicht, dass es drei Grundtypen der physikalischen Realität gibt, je einen für den kleinen, den mittleren und den großen Maßstab. Vielmehr können wir hier ablesen, wie wir normalerweise mit der Welt interagieren. Als Menschen verschaffen wir uns Begriffe, die uns im Umgang mit den Dingen helfen, die wir ohne weiteres sehen und berühren können, also Äpfel oder Berge. Der Begriff von Gegenständen mit definierter Lage in Raum und Zeit ist eine sehr effiziente Rahmenkonstruktion dafür, auf unserem Maßstab mit der Welt umzugehen. Weit weniger angemessen sind unsere Alltagsbegriffe aber, wenn wir uns in Maßstäbe begeben, die sehr weit von unserer Norm entfernt, also sehr groß oder sehr klein sind. Um mit diesen Maßstäben umzugehen, müssen wir unsere vertrauten Begriffe dehnen, und das häufig so, dass es unbequem oder verwirrend wird. Weil unsere Gedanken auf der Interaktion mit der Welt in einem bestimmten Maßstab beruhen, werden wir in scheinbar abstraktere Begrifflichkeiten gezwungen, sobald wir weitere Größenordnungen zu umspannen versuchen.
    Beispiele wie das von der Regenbogenwelt, der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik zeigen, worauf auch schon viele Philosophen hingewiesen haben: Wir haben keinen direkten Zugang zur Welt, sondern müssen sie immer durch bestimmte Rahmenkonstruktionen betrachten. 146 Diese Rahmenkonstruktionen sind nichtwillkürlich, sondern reflektieren sowohl die Welt als auch unsere Interaktion mit ihr. Unser Begriff vom dreidimensionalen Raum hängt damit zusammen, wie wir mit genau der Welt interagieren, in der wir uns befinden. Wäre die Welt anders, so würden wir sie auch anders betrachten. Die Theorien von Relativität und Quantenmechanik sind auch nichts anderes als Rahmenkonstruktionen, um die Welt zu betrachten. Sie zeigen, dass die Welt nicht so logisch ist, wie unser alltägliches Wechselspiel mit ihr es vielleicht vermuten lässt. Trotzdem kam es zu diesen Rahmenkonstruktionen wieder nur dadurch, dass wir mit der Welt in Beziehung getreten sind, denn erst durch Experiment und Beobachtung konnten die Forscher diese Theorien überhaupt formulieren. Wir können unseren Blick auf die physikalische Welt nicht sauber davon trennen, wie wir als Menschen mit ihr interagieren.
    Dasselbe gilt für unsere wissenschaftlichen Erklärungen der Evolution, der biologischen Entwicklung und des Lernens. Wir können diese Prozesse nicht anders beschreiben als über kulturelle Rahmenkonstruktionen, die selbst auf ihnen aufbauen. Das heißt nicht, dass unsere wissenschaftlichen Standpunkte willkürlich sind. Vielmehr reflektieren sie sowohl die Struktur der Welt als auch unsere Interaktionen mit ihr. Das Verhältnis zwischen unseren vier Instanzen der Formel des Lebens ist keine einfache Einbahnstraße von der Wissenschaft zur Kultur oder von der Kultur zu unserer Wissenschaft; hier geht es um ein bidirektionales Zusammenspiel unserer Standpunkte und der Prozesse, in denen sie entstanden sind.
DAS SELBSTPORTRÄT DER NATUR
    Cézanne war ein Besessener. Einige seiner Obsessionen waren eher bedauernswert. Er entwickelte eine schreckliche Angst vor Berührungen, wie Émile Bernard einmal feststellen musste, als er den Fehler begangen hatte, ihm nach einem Sturz aufhelfen zu wollen. 147 Dafür, dass er so von Äpfeln besessen war, sind wir aber ewig dankbar. Cézanne malte über 30 Stillleben mit Äpfeln (siehe zum Beispiel Abb. 83). Dem Kritiker Gustave Geffroy zufolge erklärte Cézanne: »Mit einem Apfel will ich Paris in Erstaunen versetzen!« 148 Sein Ziel war nicht einfach, Äpfel abzumalen, sondern dieses einfache Motiv dazu zu nutzen, Bezüge von

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