Die Fotografin
etwas Vernünftiges zu tun zu haben? Karen merkte an dem erstaunten Blick des Kellners, daß sie beim Bezahlen heftig den Kopf geschüttelt hatte.
»Stimmt was nicht?« fragte der lange Blonde und schielte auf die Rechnung, die er ihr vorgelegt hatte.
Karen lächelte, um Entschuldigung bittend.
»Tut mir leid, ich habe gerade an etwas völlig anderes gedacht.«
»Muß was Furchtbares gewesen sein.«
In der Tat. Sie hinterließ ihm ein extra hohes Trinkgeld und ging. Der Gedanke an Indien oder Ägypten war schrecklich. Den Zwangsurlaub jetzt hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Sie hatte seit zwei Jahren keine Ferien mehr gemacht – genauer gesagt: seit Marion nicht mehr mitfuhr. Zu zweit hatten sie wenigstens so tun können, als sei es die schönste Sache der Welt, dem Turm von Pisa beim Schiefsein zuzusehen, ohne daß irgendein Mann dazwischenquatschte.
Karen schnaubte verächtlich. Nein, der Job war das einzige, was sie wirklich beschäftigte, durch ihn kam sie mit allem zusammen, was das Leben bot, mit jeder Art von Menschen, mit allen Sorten von Problemen. Nie war ihr langweilig. Nie fühlte sie sich wirklich einsam. Der Gedanke, daß auch sie einmal »i. R.« sein würde, was auf Beamtendeutsch »im Ruhestand« hieß, ein Zustand, der keineswegs mehr ganze 30 Jahre auf sich warten lassen würde, sofern man die Altersgrenze nicht bald hochsetzte, erschien ihr plötzlich furchterregend. Was dann? Einem Bridgeclub beitreten? Die Seniorenuniversität besuchen? Kreuzworträtsel lösen? Gutes tun? Wahnsinnig werden – oder wenigstens depressiv?
Karen stellte sich zu der kleinen Menschenansammlung, die sich um vier ernst blickende Männer in schwarzen Anzügen gebildet hatte, die auf so imponierenden Instrumenten wie Tuba, Posaune, Trompete und Saxophon klassische Weisen spielten. Manchmal fürchtete sie, es würde sich spätestens mit der Pensionierung womöglich doch rächen, wenn es bis dahin niemanden in ihrem Leben gab, der nicht mit ihr nach Indien oder Ägypten fuhr.
Nach einer Stunde hatte sie genug von trödelnden Teenagern, bettelnden Alkis, brüllenden Kleinkindern und rasenden Radfahrern. Aber zu Hause war es auch nicht besser. Die Wohnung kam ihr zu groß vor und zu leer, selbst die neue CD von Celine Dion bei weit aufgedrehtem Verstärker nützte heute nichts. Das Badewasser, das sie sich hatte einlaufen lassen, stellte sie nach einer Viertelstunde wieder ab.
Und Lydia Herrmann freute sich jetzt schon auf den Vorvorruhestand… Wie machte die Frau das bloß?
Plötzlich merkte Karen, daß sie die Hände zu Fäusten geballt hatte und daß es weh tat, wenn sie die Finger wieder ausstreckte. Angelika Kämpfer war Konkurrenz, gut, damit mußte sie leben. Aber konnte es sein, daß die Frau mit der Unschuldsfrisur mehr war als das? Was, wenn sie dafür sorgte, daß Karen abgeschoben wurde? In eine andere Abteilung, an ein anderes Gericht, in eine andere Stadt? Ein Leben außerhalb Frankfurts, gar außerhalb Hessens schien Karen plötzlich unvorstellbar. In der Mitte der Republik versammelte sich eine Vielfalt menschlichen Lebens, und so vielfältig wie die Lebensweisen waren auch die Verbrechen. All die Fälle der letzten Jahre passierten ihr inneres Auge: Der muslimische Vater, der seinen Sohn halb totgeprügelt hatte. Die Tochter, die den Vater bestialisch umbrachte, und die Mutter, die sie vor der Strafe schützen wollte. Der Mordfall Caruso. Das Drama im Weindorf Wingarten. Der tiefe Fall des Frankfurter Bundestagsabgeordneten Alexander Bunge…
Wer ihr diesen Beruf vermieste, raubte ihr alles, was ihr im Leben wichtig war. Karen spürte eine raumfüllende Leere in sich aufsteigen. Sie drehte die Musik noch lauter und wartete fast sehnsüchtig auf das Klopfen von Hausmeister Stein in der Wohnung unter ihr.
Vielleicht sollte sie mal wieder aufs Land fahren, in Pauls stinkendes Kuhkaff, sich von großen Hunden besabbern und von halbdebilen Landkindern begaffen lassen. Mit Paul am Gartentisch sitzen und Obstler trinken. Unkrautjäten, Lydia Herrmann zum Trotz.
Sie wählte Pauls Nummer. Niemand antwortete. Wahrscheinlich war er Fahrradfahren oder auf dem Weiherhof, zum Reiten. Sie sah ihn vor sich, in der knielangen schwarzen Radlerhose, darüber die Windjacke, das Gesicht braungebrannt unter dem kurzen weißen Haar. Sie zögerte. Dann gab sie sich einen Ruck.
Sie griff sich Jeans und T-Shirt, zog Halbschuhe an, warf ihre Joggingsachen und einen Pullover in die Tasche, holte den Reisebeutel mit
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