Die Fotografin
Senger!« sagte er fast flehentlich. »Es sind womöglich die letzten Fotos Ihrer Eltern, ich meine…«
»Nein!«
Er sah schockiert aus, befremdet, gekränkt.
Was sollte sie ihm sagen, wie all das erklären? Sie wollte keine Fotos. Sie wollte das innere Bild behalten, das sie von beiden hatte.
Alexa war wieder beim Fotoladen angekommen und beobachtete von der anderen Straßenseite aus, wie ein Touristenpärchen mit umgehängten Kameras hineinging und nach einer Weile wieder herauskam. Sie verstand ihr Zögern nicht. Was hatten ihre Erinnerungen mit den Fotos von Ada Silbermann zu tun, einer Frau, die sie schließlich gar nicht kannte? Und warum fürchtete sie sich mit einem Mal vor dem, was sie auf diesen alten Aufnahmen sehen könnte? Wie kam sie überhaupt darauf, es könnten die letzten Fotos sein, die die Fotografin gemacht hatte?
Wenn er jetzt hier wäre, hätte sie nicht gezögert – schon, um ihm keine Gelegenheit zu geben, über ihren Aberglauben zu lachen. »Ich fürchte mich vor den Lebenden, nicht vor den Toten«, hatte er einmal gesagt.
Vor den Lebenden. Sie gab sich einen Ruck. Nicht vor den Fotos Ada Silbermanns. Sie setzte den Fuß auf die Straße. Erst als sie das Geräusch quietschender Reifen hörte, sah sie nach links. Durch die Windschutzscheibe eines weißen Renaults blickte sie in das erschrockene Gesicht eines dunkelhaarigen jungen Mannes, der den Arm um die Schulter seines Mädchens gelegt hatte und wahrscheinlich viel zu schnell gefahren war. Alexa hob entschuldigend die Hand und ging weiter. Erst auf der anderen Straßenseite spürte sie ihre Knie zittern.
Man guckt , bevor man über die Straße geht, dachte sie. Es sei denn, man ist lebensmüde. Zumal kein Ben in der Nähe war, der sie hätte retten können.
Die Frau vom Fotoladen hatte aus dem Fenster gesehen und schüttelte den Kopf, als Alexa die Ladentür öffnete. »Immer diese jungen Leute!« sagte sie und »Das hätte auch schiefgehen können!«
»Es war meine Schuld«, antwortete Alexa.
Die grauhaarige Frau schüttelte wieder den Kopf und reichte ihr den Umschlag. Ob sie die Abzüge überprüfen wolle? Alexa schüttelte den Kopf, suchte sich eine Postkarte mit Sonnenuntergang hinter dem Col de Barzac aus, bezahlte und ging.
9
P aul Bremer stellte die Kaffeetasse ab, lehnte sich zurück und blinzelte in die Morgensonne. Obwohl er seit gestern abend und bis vor einer Stunde am Steuer gesessen hatte, spürte er keine Müdigkeit. Während Karen neben ihm geschlafen hatte, war seine Euphorie mit jedem Kilometer gewachsen. Er war lange nicht mehr nachts gefahren. Die Autobahnen waren leer, über ihnen ein tiefer Sternenhimmel, und hinter Lyon schon wehten mit der warmen Luft die Gerüche des Südens durchs Wagenfenster hinein.
Sie hatten ein kleines Hotel gefunden, direkt in Beaulieu. Karen wollte erst duschen, während er den Tag mit einem Grand Crème im örtlichen Café begann. Das Café lag an der Hauptstraße, neben Bäcker, Metzger, Maison de la Presse. Die Schiebetüren waren geöffnet, dort, wo er saß, hatte er die Straße ebenso im Blick wie den Innenraum des Cafés, das eher nach einer Bar aussah, jedenfalls standen drei Männer am Tresen und leerten ihre Gläser. Ohne zu fragen, schenkte der Wirt aus der Pastisflasche nach. Irgend etwas schien die Männer zu erregen, er kriegte nicht genau mit, um was es ging.
Auf dem Boden lagen zerknülltes Papier und Zigarettenstummel. Der Tresen war mit Plastikfolie beklebt, die nach Holz aussehen sollte, so, wie man es in den 60er Jahren schätzte, darauf ein Fries aus bunten Mosaik und Goldsteinchen. An der Decke hingen ein Ventilator und zwei Leuchtstoffröhren, der Fernseher, auf einem Brett oben an der Wand, lief ohne Ton, dafür plärrte das Radio.
An einem Tisch in der Ecke saßen zwei alte Männer mit schwarzen Pudelmützen auf dem Kopf, den Gesichtszügen und dunklen Augen nach Araber, und spielten Schach.
Vor dem Café, an einem der Seitentische, lehnten sich drei Männer in die Plastikstühle, Touristen, so wie sie aussahen, und lächelten mit dem entrückten Blick derjenigen, die endlich im Urlaub angekommen waren. Am Nebentisch saß ein bäuerlich wirkender Mann in einem ausgewaschenen blauen Pullover – Bremer schätzte ihn auf jenseits der Sechzig –, der in einem zerfledderten, an den Rändern vergilbten Notizbuch blätterte und ab und an etwas in ein anderes, deutlich weniger benutztes schrieb. Immer, wenn die Brille ihm auf die unförmige Nase
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