Die Fotografin
Plato saß kerzengerade auf der Bettkante. Sie saß dort schon seit den frühen Morgenstunden, nach einer kurzen unruhigen Nacht. Stillhalten, dachte sie. Das Vernünftigste, was man jetzt tun kann. Nur wer nichts macht, macht auch nichts falsch.
Aufstehen, packen, bezahlen und abfahren wäre natürlich auch keine schlechte Idee gewesen. Aber das empfahl sich nicht für jemanden, der vom Bett aus noch nicht einmal das Muster auf der Tapete erkennen konnte. Sofern die Tapete überhaupt eins hatte.
In den ersten Stunden vor Morgengrauen hatte die Panik sie gelähmt. Doch je heller es wurde, desto mehr genoß sie das fast vergessene Vergnügen, nichts in ihrer Umgebung klar erkennen zu können. Die alltäglichen Gegenstände hatten endlich wieder ein Geheimnis.
Waren es Tränen gewesen, gestern abend, oder die Sturzbäche vom Himmel – oder die Ungeduld, mit der sie sich die Nässe aus den Augen gewischt hatte? Irgendwo auf dem Weg zurück ins Hotel waren ihr die Kontaktlinsen abhanden gekommen. Beide. Eine Katastrophe. Nicht, daß sie kein Ersatzpaar hatte – das lag zu Hause in Frankfurt, sicherheitshalber, ebenso die Brille. Ohne Sehhilfe aber war an Autofahren nicht zu denken, auch nicht an andere größere Unternehmungen, höchstens an maßvolle Ausflüge in die nähere Umgebung – sagen wir: Frühstücksraum oder Terrasse. Vielleicht gab der Patron sich als Blindenhund her.
Die Situation war comedyreif. Wenn man Spaß an Behindertenwitzen hatte.
Damals, als ihr das erste Mal so etwas passiert war, hatte sie nicht gelacht. Es war erst das zweite Rendezvous gewesen mit ihm, wie immer er hieß; sie waren tanzen gegangen. Er roch nach Pfeifentabak, Lavendelseife und Cognac – komisch, dachte sie, das wenigstens vergißt man nicht. Und auch nicht den weichen dunkelblauen Pullover mit Rollkragen, den er trug, ein Jackett wäre spießig gewesen. Und daß er mindestens 20 Zentimeter größer war als sie. Und daß es dämmrig war in der Tanzbar, daß man irgendeine Engtanzschmonzette spielte und daß sie für einen Moment den Kopf an seine Brust gelehnt hatte.
Ihr Schrei hatte alle auf der Tanzfläche schlagartig erstarren lassen. Irgend etwas mußte ihnen vermittelt haben, daß das Leben der jungen Frau davon abhing, daß keiner einen falschen Schritt tat. Es mußte urkomisch ausgesehen haben, wie alle stocksteif herumstanden und gebannt auf die hysterische Person guckten, die auf den Knien über die Tanzfläche kroch und mit der Hand wischende Bewegungen machte – eine Ewigkeit lang, wie es ihr im nachhinein schien. In einer der demütigendsten Positionen, die sie sich vorzustellen vermochte. Und alles wegen eines gerade mal fingernagelgroßen gläsernen Gegenstandes, den man auch mit scharfen Augen nicht auf Anhieb sah. Für sie das Versprechen auf ein neues Leben, das ein Vermögen gekostet hatte.
Und dann, irgendwann, seine Stimme, von oben, belustigt, ironisch, wahrscheinlich beides.
»Suchst du das hier?« Sie hatte aufgesehen, immer noch auf den Knien hockend. Er zeigte grinsend mit dem Finger auf ein silbern glitzerndes Etwas, das an seinem Pullover hing. »Da sind wir uns aber ganz schön nahe gekommen, findest du nicht?«
Die anderen um sie herum hatten wieder zu tanzen begonnen. Sie mußte knallrot im Gesicht gewesen sein vor Scham. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, pflückte sie das Objekt von seinem Pullover, ging zum Waschraum, setzte die Linse wieder ein und wischte sich die verschmierte Wimperntusche vom Gesicht.
»Doro! Was hast du denn? Es ist doch nichts passiert!« Sie marschierte mit erhobenem Kopf an ihm vorbei. Ich hasse es, wenn man mich Doro nennt, hatte sie gedacht und war, ohne sich von ihm zu verabschieden, zur nächsten Straßenbahnhaltestelle gelaufen.
Dorothea v. Plato schüttelte den Kopf. Was war sie für eine humorlose Zicke gewesen. Kein Wunder, daß das nichts wurde mit den Männern.
Aber die Erinnerung brachte sie auf eine Idee. Sie streckte die Hand nach dem Telefon aus. Sie konnte sich mit dem Taxi zum Flughafen bringen lassen.
Sie ließ die Hand wieder fallen.
Es war zu spät. Irgendwann würden sie ihn finden, irgendwann auf Naheliegendes kommen, irgendwann würde sie Schritte hören, die vor ihrer Tür haltmachten. Dorothea preßte die Hände zusammen und spürte mit einem leisen Ekelgefühl, wie kalt und klamm sie waren. Dabei gab es, nüchtern betrachtet, gar keinen Anlaß für Panik. Nur ein Kommissar Maigret käme auf die Idee, Schlüsse zu ziehen, die
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