Die Frau des Polizisten
Grad unter Null, und es war vollkommen windstill. Die Inseln auf dem ruhigen Meer glichen entlegenen Gebirgsketten.
Der Boden, der am Abend zuvor nass und matschig gewesen war, war nun hartgefroren und gab kein Geräusch von sich, als sie darüberliefen. Alles Leben schien sich zurückgezogen zu haben. Achtsam gingen sie den gefrorenen Weg hinunter und kamen an dem rotgestrichenen Haus mit dem roten Gartenzaun und dem ebenso knallroten Nebengebäude vorbei. Verstohlen besahen sie das Gewimmel der Plastikfiguren, die reglos und stumm hinter dem Zaun standen und ihr Gesicht dem Weg zuwandten.
»Mumintrolle als Wachhunde … tja, vielleicht«, kicherte Anna leise. Erika erschauerte unwillkürlich. Es kam ihr vor, als würden die dunklen Plastikaugen ihnen folgen, als sie vorübergingen. Erika musterte die Trolle, die schweigsame Schar an Märchenfiguren, die den Platz hinter dem Zaun einnahm. Wer wohl dort wohnen mochte? Was hatte den Bewohner dazu gebracht, dieses hässliche Haus glänzend rot zu streichen und seinen Garten mit Märchenfiguren zu bevölkern?
Als die Morgendämmerung nicht mehr alles einhüllte, sah Erika, dass ihr Zufluchtsort an der Einmündung einer flachen, beinahe halbrunden Bucht lag. Gegenüber lagen rote Bootsschuppen in einer Reihe, die durch lange schmale Stege miteinander verbunden waren. Der Wasserstand war niedrig und die Bucht beinahe trockengelegt, wie eine glatte Schlittschuhbahn, umgeben von stacheligen und wild wuchernden Sträuchern und Wald. Erika und Anna behielten ihr hohes Tempo bei und umrundeten die Bucht, traten auf die Stege hinaus und betrachteten die Sommerhäuser auf der Landzunge – die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatten, mit Eskos grauem Sommerhaus und dem quietschroten Haus des Nachbarn.
Sie gingen ein Stück zurück und folgten dem Weg zu einer großen Bucht, an der ein privater Badeverein seine Örtlichkeiten hatte – ein kleiner gefrorener Sandstrand und ein paar aus dem Wasser gezogene Schwimmstege, und weiter draußen ein kleiner Segelhafen mit roten Bootsschuppen, die dicht aneinandergedrängt an der Kailinie standen. Die Häuser, die sich an die Klippen schmiegten sowie die Gebäude am Bootshafen waren groß und kostspielig. Manche besaßen einen eigenen Strand und private Bootsstege mit niedlichen Bootshäusern. Anna plapperte über die Häuser drauflos, welchebekannten Architekten sie entworfen hätten und welche Familien dort wohnen würden. Erika zeichnete die Uferlinie mit dem Blick nach. Ihr neuer Zufluchtsort lag offenbar in unmittelbarer Nähe zu dem neuen Straßenstück, an dem auch Helene und Kai gebaut hatten. Sie lächelte vor sich hin und schüttelte ungläubig den Kopf. All diese Verflechtungen! Und trotzdem behaupteten die meisten steif und fest, dass das Leben nur aus Zufällen bestünde.
Sie blieben stehen, wo die Klippen den Weg ablösten, und sahen hinaus aufs Wasser. Draußen lag der südliche Teil des Schärengartens. Sie konnten die weißen Gebäude auf Donsö und die Brücke nach Styrso ausmachen. Der Fels, auf dem sie standen, war nahezu kahl, nur ein paar windgepeitschte Wacholdersträucher und hier und da ein Baum klammerten sich in den Spalten fest. Wenig später bogen sie ins Landesinnere ein, stiefelten an ein paar kleineren Sommerhäuschen am Waldrand vorbei und stießen auf die Baustellen und die neue Straße.
»Ich bin hier draußen in einem Reihenhausghetto aufgewachsen«, sagte Anna mit einem Lächeln und blinzelte zu einem der Bagger hinüber, die nicht in Betrieb waren und deren Schaufeln auf dem Boden ruhten, als ob sie im Stehen schliefen. Sie hielt an und schirmte ihre Augen gegen das Licht ab.
»Aha, das ist also die neue Entwicklung. Herrgott noch mal, ich finde mich hier kaum noch zurecht«, lächelte sie unbekümmert und hielt auf die Neubauten zu. Hier herrschte gespenstische Stille, nirgends rührte sich etwas. Es war, als ob sie einen schallisolierten Raum betreten hätten.
Die beiden Fertighäuser am Straßenanfang hatten seit Erikas letztem Besuch Dachstühle bekommen. Das Holz und die fertigen Wandkassetten hatte der Sprühregen rasch dunkelgefärbt. Helene Christensens Haus wirkte trist und verlassen – kein Licht, kein Auto. Neben Kais riesiger Villa brannte Licht in einem Baucontainer. Daneben parkten ein paar Autowracks. Erika nahm an, dass dort die Handwerker wohnten.
Der Bau gegenüber der Unternehmervilla, an der Kurve, lag ebenso gespenstisch still da wie alles andere. Eine der
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