Die Furcht des Weisen / Band 1
Anstrengung. Genauso waren ihre Bewegungen.
Ich trat rasch unbemerkt von hinten an sie heran. »Entschuldigt, mein Fräulein?«
Denna drehte sich um. Ihre Miene hellte sich freudig auf, als sie mich sah. »Ja?«
»Ich würde nie eine Frau so ansprechen, doch fiel mir auf, dass Ihr die Augen einer Dame habt, in die ich einst unsterblich verliebt war.«
»Wie schade ist es doch, wenn man nur einmal liebt«, erwiderte sie mit einem schelmischen Lächeln, so dass ich ihre weißen Zähne sah. »Wie ich höre, lieben manche Männer zwei Mal oder noch öfter.«
Ich ging nicht darauf ein. »Ich ließ mich nur einmal zum Narren halten. Nie wieder werde ich lieben.«
Sie sah mich zärtlich an und legte die Hand leicht auf meinen Arm. »Du Armer! Sie muss dich schrecklich gekränkt haben.«
»Wohl wahr, und das nicht nur einmal.«
»Aber so etwas muss man ertragen«, fuhr sie sachlich fort. »Wie sollte eine Frau einen Mann von so glänzender Erscheinung wie dich nicht lieben?«
»Davon weiß ich nichts«, erwiderte ich bescheiden. »Aber ich glaube, sie liebt mich nicht, denn sie fing mich mit einem Lächeln ein und stahl sich dann ohne ein Wort davon – wie der Tau im bleichen Schein der Morgendämmerung.«
»Oder wie ein Traum beim Aufwachen«, fügte Denna lächelnd hinzu.
»Oder eine Fee, die in den Wald entschwindet.«
Sie schwieg. »Diese Frau muss in der Tat ganz wunderbar sein, |636| wenn du ihr so vollkommen verfallen bist«, sagte sie schließlich und sah mich ernst an.
»Sie hat nicht ihresgleichen.«
»Jetzt ist aber genug«, rief Denna fröhlich. »Wir wissen doch alle, dass im Dunkeln alle Frauen gleich sind!« Sie kicherte und stieß mich augenzwinkernd mit dem Ellbogen in die Seite.
»Das stimmt nicht«, sagte ich in fester Überzeugung.
»Hm«, meinte Denna langsam, »dann muss ich dir wohl glauben.« Sie blickte zu mir auf. »Vielleicht gelingt es dir ja irgendwann, mich davon zu überzeugen.«
Ich erwiderte den tiefen Blick ihrer braunen Augen. »Darauf hoffe ich seit je.«
Denna lächelte und mein Herz tat einen Sprung. »Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben.« Sie hakte sich bei mir unter. »Denn was wären wir ohne sie?«
|637| Kapitel 67
Sprechende Gesichter
A n den folgenden Tagen ließ ich mich von Stapes stundenlang darin unterweisen, wie man sich bei einem offiziellen Essen zu benehmen hatte. Zwar wusste ich vieles noch aus meiner frühen Kindheit, aber ich war trotzdem über die Auffrischung froh. Sitten und Bräuche ändern sich von Ort zu Ort und von Jahr zu Jahr, und selbst ein kleiner Fehler kann große Peinlichkeit auslösen.
Stapes veranstaltete also ein Essen nur für uns beide und machte mich auf ein Dutzend kleiner, aber folgenschwerer Fehler aufmerksam. Beschmutztes Besteck auf dem Tisch abzulegen etwa galt als unfein. Dagegen war es nicht anstößig, das Messer sauber zu lecken. Wenn man die Serviette nicht beschmutzen wollte, blieb einem gar nichts anderes übrig.
Ähnlich unfein war es, ein Stück Brot ganz aufzuessen. Ein Teil davon, und möglichst nicht nur die Kruste, hatte auf dem Teller liegen zu bleiben. Dasselbe galt für Milch: der letzte Schluck blieb immer im Glas.
Am Tag darauf veranstaltete Stapes ein zweites Essen, und ich machte weitere Fehler. Bemerkungen über das Essen abzugeben war nicht unhöflich, galt aber als provinziell. Aus demselben Grund sollte man auch nicht am Wein riechen. Und der kleine, weiche Käse, der mir serviert wurde, besaß offenbar eine Rinde. Jeder zivilisierte Mensch aber wusste, dass man die nicht mitaß und deshalb abschnitt.
Ungebildet wie ich war, hatte ich den Käse mitsamt der Rinde gegessen. Er hatte ausgezeichnet geschmeckt. Doch ich merkte mir meinen Fehler und fand mich damit ab, die Hälfte dieser Köstlichkeit |638| wegzuwerfen, wenn sie mir bei einem solchen Essen vorgesetzt wurde. Das ist der Preis der Kultiviertheit.
Zum Bankett erschien ich in Kleidern, die der Schneider eigens für diese Gelegenheit angefertigt hatte. Die Farben, Laubgrün und Schwarz, standen mir ausgezeichnet. Der Anteil an schwerem Brokatstoff war für meinen Geschmack zu groß, aber ich war, wenngleich widerstrebend, bereit, mich an diesem Abend dem Diktat der Mode zu beugen, da ich links neben Meluan Lackless sitzen würde.
Stapes hatte in den vergangenen drei Tagen sechs Essen für mich inszeniert, und ich fühlte mich bestens vorbereitet. In der Erwartung, dass der anstrengendste Teil des Abends sein würde, Interesse für das
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