Die Furcht des Weisen / Band 1
uns mitten in der Nacht auf einem Dach begegneten.
»Meister Elodin.« Auri stellte einen nackten Fuß hinter den anderen, ergriff den Saum ihres zerlumpten Kleids und machte einen Knicks.
Elodin verharrte im Schatten des großen Schornsteins. Er antwortete mit einer eigentümlich formellen Verbeugung. Ich konnte sein Gesicht nicht genau erkennen, stellte mir aber vor, wie er das barfüßige, verwahrlost wirkende Mädchen mit der Haarwolke neugierig betrachtete. »Was treibt euch denn an diesem schönen Abend hier herauf?«, fragte er.
Ich erstarrte. Auri Fragen zu stellen war gefährlich.
Doch glücklicherweise schien es sie in diesem Fall nicht zu stören. »Kvothe hat mir schöne Dinge mitgebracht«, sagte sie. »Er hat mir Bienenbier geschenkt und Brot und einen geräucherten Fisch, der eine Harfe hat, wo sein Herz sein sollte.«
»Ah«, sagte Elodin und trat nun aus dem Schatten des Schornsteins hervor. Er tastete sein Gewand ab, bis er etwas in einer Tasche fand, und hielt es ihr hin. »Ich fürchte, ich habe dir nur eine Cinnasfrucht mitgebracht.«
Auri wich einen kleinen Tanzschritt zurück und machte keine |156| Anstalten, das Obst entgegenzunehmen. »Habt Ihr Kvothe auch etwas mitgebracht?«
Das erwischte Elodin offenbar auf dem falschen Fuß. Er stand einen Moment lang unschlüssig da, einen Arm immer noch ausgestreckt. »Ich fürchte, nein«, sagte er. »Aber Kvothe hat ja vermutlich auch nichts für mich mitgebracht.«
Auri runzelte ein wenig die Stirn. »Kvothe hat Musik mitgebracht«, sagte sie streng. »Und die Musik ist für alle da.«
Elodin hielt erneut inne, und ich muss gestehen, dass ich es genoss, zu sehen, wie er dieses eine Mal von jemand anderem in Verlegenheit gebracht wurde. Er wandte sich um und deutete in meine Richtung eine Verbeugung an. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte er.
Ich machte eine gnädige Geste. »Nicht der Rede wert.«
Elodin wandte sich wieder Auri zu und streckte erneut die Hand aus.
Nun trat sie zwei kleine Schritte vor, zögerte und näherte sich ihm dann noch zwei kleine Schritte weit. Sie streckte langsam eine Hand aus, ergriff die kleine Frucht, huschte mehrere Schritte zurück und hielt sich dabei beide Hände vors Herz. »Vielen, vielen Dank«, sagte sie und machte erneut einen Knicks. »Jetzt dürft Ihr Euch zu uns gesellen, wenn Ihr mögt. Und wenn Ihr Euch gut benehmt, dürft Ihr anschließend bleiben und Kvothe spielen hören.« Sie neigte den Kopf ein wenig und verwandelte es so in eine Frage.
Elodin zögerte kurz und nickte dann.
Auri huschte zur anderen Seite des Dachs und dann die kahlen Äste des Apfelbaums hinab in den Hof.
Elodin sah ihr nach. Als er den Kopf bewegte, erhellte der Mondschein sein Gesicht so weit, dass ich seine nachdenkliche Miene erkennen konnte. Mit einem Mal schnürte mir eine große Besorgnis den Magen zusammen. »Meister Elodin?«
Er sah sich zu mir um. »Hm?«
Ich wusste aus Erfahrung, dass Auri nur drei oder vier Minuten brauchen würde, bis sie mit dem, was sie nun aus dem Unterding hervorholte, wieder auf dem Dach auftauchen würde. Ich musste mich kurz fassen und mich beeilen.
|157| »Ich weiß, dass es seltsam wirkt«, sagte ich. »Aber Ihr müsst vorsichtig sein. Sie ist sehr ängstlich. Versucht nicht, sie zu berühren. Und macht bitte keine plötzlichen Bewegungen. Das würde sie verscheuchen.«
Elodins Gesicht war nun wieder im Schatten verborgen. »Tatsächlich?«, sagte er.
»Auch keine lauten Geräusche. Nicht einmal lautes Gelächter. Und Ihr dürft ihr keine Fragen stellen, die auch nur ansatzweise etwas Persönliches berühren. Sonst rennt sie einfach weg.« Ich atmete tief durch, mein Hirn raste. Ich bin ein redegewandter Mensch, und wenn ich genug Zeit habe, kann ich so ziemlich jeden von so ziemlich allem überzeugen. Elodin aber war einfach zu unberechenbar, als dass ich ihn hätte manipulieren können.
»Ihr dürft auch niemandem erzählen, dass sie hier ist.« Es klang eindringlicher als beabsichtigt, und augenblicklich bereute ich meine Wortwahl. Es stand mir nicht zu, einem Meister Anweisungen zu geben, selbst wenn dieser Meister mehr als nur halb wahnsinnig war. »Ich meine damit«, fügte ich schnell hinzu, »dass Ihr mir einen großen Gefallen tun würdet, wenn Ihr sie niemandem gegenüber erwähnt.«
Elodin sah mich forschend an. »Und wieso das, Re’lar Kvothe?«
Bei seinem kühl-belustigten Tonfall brach mir der Schweiß aus. »Sie würden sie nur ins Refugium
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