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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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wusste später nicht mehr, wann sich die kindliche Seele vom Leib befreit hatte, durch das Fenster entwischt und zum Himmel gestiegen war, hoffentlich von Engeln empfangen, nicht von Dämonen. Eigentlich konnten es nur wenige Dämonen sein, nicht zahlreiche wie bei einem Menschen, der viele schwere Sünden auf sich geladen hatte.
    »Schläft sie?«, fragte Marguerite.
    Alaïs nickte. Sie hielt Marguerite für verständig genug, um nicht hinzufügen zu müssen, dass Roselina niemals wieder aufwachen würde.
     
    Giacinto verließ den Raum, das spürte Alaïs an dem Luftzug, als die Türe sich öffnete und wieder schloss. Noch weitere Male war das der Fall. Menschen kamen, erhaschten einen Blick auf das tote Kind, bekreuzigten sich rasch und lugten dann neugierig in Marguerites Richtung. Vielleicht wurden wieder Wetten abgeschlossen, diesmal darauf, wie die Mutter es aufnahm, mit gottgefälligem Schweigen, irrem Gekreisch oder erbärmlichem Geheule.
    Marguerite tat nichts dergleichen. Wortlos ergriff sie eines jener Leinentücher, die Alaïs eben noch auf die Wunde gepresst hatte. Sie tat es ihr gleich, sodass Alaïs schon vermeinte, sie würde den Tod der Tochter nicht begreifen, sondern kämpfe immer noch damit, den Blutfluss zum Stocken zu bringen. Doch Marguerite hatte anderes im Sinn. Sie wartete, bis sich das Leinen mit der klebrigen Masse vollgesogen hatte, dann hob sie es hoch, um es über der Tochter auszuwringen. Wo immer Roselinas Kleidchen weiß geblieben war, beschmutzte sie es mit Blut.
    »Was tust du denn?«, fragte Alaïs leise. Sie brachte es nicht zustande, sie davon abzuhalten, aber sie starrte sie fassungslos an.
    »Der Tod ist nicht sauber«, sagte Marguerite ein ums andere Mal. »Der Tod ist nicht sauber, ich komme ihm nur zuvor.«
    Und dann plötzlich ließ sie das blutdurchtränkte Leinen auch auf Roselinas Gesicht klatschen, einmal, zweimal, immer fester, als wollte sie das Kind nicht nur verunreinigen, sondern obendrein schlagen, aus Strafe, weil es sich nicht sauber gehalten hatte.
    »Hör auf !«, flehte Alaïs, die kaum ertragen konnte, dem zuzusehen. »Ich bitte dich, hör auf!«
    »Der Tod ist nicht sauber«, bekundete Marguerite wieder. »Ich komme ihm nur zuvor. Sie gehört doch mir … nicht ihm …«
    Wieder klatschte das Leinen. Roselinas starres Gesicht war nunmehr bedeckt von Blutklumpen, ihr helles Haar war ebenso verkrustet wie ihre Wimpern. Bei ihrem Anblick musste Alaïs an die Toten denken – die Toten von Saint – Marthe, die Aurel zerstückelt und zerschnitten und ausgeweidet hatte. An das Auge der toten Louise, das er hochgehalten und von allen Seiten besehen hatte. Der Leichengeruch stieg ihr in die Nase, obwohl Roselina noch lange nicht zu faulen begann.
    »Bitte, hör auf!«, flehte sie.
    Tatsächlich hielt Marguerite kurz inné. »Aber weißt du«, sagte sie plötzlich, und es klang nicht verzweifelt, sondern verträumt, »aber weißt du, auch das Leben ist nicht sauber. Die Leiber der Menschen stinken und schwitzen und pissen und scheißen … ob sie nun in Lumpen gehüllt sind oder in edle Gewänder. Das ist die Wahrheit. Das ist die einzige Wahrheit. Ich dachte, ich könnte … sie davor bewahren, wenigstens sie.«
    Behutsam trat Alaïs an sie heran. Sie versuchte, Roselinas blutiges Gesicht nicht zu beachten, legte ihre Hände um Marguerites Schultern und zog sie von der toten Tochter fort. Nie war sie dem prallen, rosigen Leib der anderen derart nah gekommen, nie hatten deren blonde Locken sie gekitzelt wie jetzt.
    »Sag nichts«, murmelte sie. »Sag nichts mehr.«
    Marguerite schwieg. Wieder spürte Alaïs einen sanften Luftzug, denn wieder hatte sich die Türe geöffnet. Irgendjemand spähte hindurch, um das tote Kind zu begaffen. Alaïs hob den Kopf, erkannte, dass Giacinto zurückgekehrt war, doch er war nicht alleine. An seiner Seite stand Gasbert de Laval, sich bekreuzigend wie der Rest.
     
    Er trat nicht näher, sondern blieb an der Türschwelle stehen. Immer wieder bekreuzigte er sich, zunächst mit gesenktem Blick. Dann hoben sich seine Augen und blickten zwischen Marguerite und Roselina hin und her. Abscheu und Ekel standen darin und auch – nicht viel ließ in seinem Gesicht darauf schließen, nur der leere Blick seiner schmalen Augen und die Falten seiner Stirn – ein Anflug von Trostlosigkeit. Er schien sich davor schützen zu wollen, indem er nicht näher kam – und war doch vom Anblick der trauernden Mutter zu sehr gefangen, um einfach zu

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