Die Gefährtin des Medicus
Erinnerung an eine ganz andere, an seine harten Knochen, seine sehnige Gestalt, vor allem an die Steine, die sich ihr in den Rücken gebohrt hatten, damals, als er auf ihr lag, in der Grotte. Ward der salzig – faulige Geruch, der ihr plötzlich in die Nase stieg, von der Erinnerung heraufbeschworen? Oder hing er schon den ganzen Tag, einer schweren Glocke gleich, über dem Hafen von Marseille?
»Ich habe immer gedacht, dass ich der größte
Cyrurgicus
dieser Zeit und dieser Welt sein möchte! Aber weißt du … diese Welt verdient mich vielleicht nicht. Eine eigene muss ich mir schaffen, wo nicht zählt, was diese engstirnigen Quacksalber und frömmlerischen Pfaffen gebieten! Wo nur mein Wort und mein Wille gelten.«
Sie hatte ihm die Hände entziehen wollen, doch mit jedem Wort, das er sprach, verstärkte er den Druck, und nach anfänglichem Ekel und Unbehagen war es etwas anderes, das er in ihren Körper jagte und ihn hellwach stimmte: das Gefühl, dass ihr ganzes Leben auf diesen Augenblick zugelaufen war und nun, da er gekommen war, allen überflüssigen Ballast abwarf.
Wieder wurde ihr die Kehle so eng, dass sie meinte zu ersticken, diesmal nicht an Neid, sondern an dem bloßen Gedanken, nach Saint – Marthe zurückzukehren und dort mit einem Kind zu leben, das ihr fremd war, und mit einem Mann, der sich damit begnügte, Feuerholz zu hacken, Fisch zu fangen und Essen zu kochen.
»Ich ertrage es nicht!«, stieß sie aus, und erst als es gesagt war, gewahrte sie, dass sie es nicht nur gedacht, sondern tatsächlich laut geschrien hatte.
Aurel blickte sie verständnislos an, und rasch biss sie sich auf die Lippen. Schäbig deuchte es sie, ausgerechnet ihm seine Gefühle offenbart zu haben. Sollte sie ihn dafür, dass er sie im Stich gelassen, ja, erst in diese Lage gebracht hatte, nicht besser mit Stolz bestrafen?
Doch wenn auf eine Sache Verlass war, dann darauf, dass Aurel nicht tief genug in die Gefühle anderer Menschen drang, um sie gegen diese auszuspielen. Wenn sie sich schwach gab, würde sie von ihm kein Mitleid bekommen, aber auch keinen Hohn oder Verachtung.
»Kommt doch mit!«, erklärte er leichtfertig, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, »’s ist kein übliches Schiff, das da aufbricht. Pio Navale lässt sich von seiner Frau begleiten, manche der Seemänner haben auch ihre Frauen dabei. Schließlich wollen wir die Fremde nicht nur erforschen, sondern dort leben – und dafür bedarf es einiger Familien.«
Trotz der kühlen Luft fühlte Alaïs ihre Wangen wieder heiß werden. Doch ehe sie sich zu Zweifel, gar Widerspruch aufraffen konnte, fuhr er schon eifrig fort: »Emy ist doch nicht als Fischer geboren! Und jetzt ist das Kind groß genug …«
Er fuhr nicht fort. Hielt er Raymonda womöglich für seine eigene Tochter? Sah er denn nicht, dass sie viel zu klein war, um damals in der Grotte gezeugt worden zu sein?
Ehe die Fragen aus ihr herausbrachen, schnellten Aureis Hände erneut vor. Wieder ergriff er die ihren, drückte sie.
»Rede mit Emy! Schlag ihm vor, mit aufzubrechen! Er ist doch damals nur zurückgeblieben … «
Wieder brachte er den Satz nicht zu Ende.
Weil du es von ihm verlangt hast, ging es Alaïs durch den Kopf. Weil du dir eine Lösung ausgedacht hast, die dir am besten bekam. Weil du niemals überlegt hast, was aus mir werden würde.
Und doch, ich würde meine Seele verkaufen, um mit dir zu gehen.
Sie entzog ihm rasch die Hände.
»Ich muss zurück«, sagte sie, ohne zu bekunden, was sie von seinem Vorschlag hielt und ob sie bereit war, darüber auch nur nachzudenken.
Emy war noch wach, als sie die Unterkunft erreichte. Sie konnten keine der üblichen Herbergen bezahlen, wo sich die Menschen aneinanderdrängten, sich gegenseitig mit ihrem Schnarchen wachhielten und der Preis für eine Schüssel Grütze weit über ihrem Wert lag – wo man aber immerhin ein festes Dach über dem Kopf hatte und Wände, durch die es nicht zog. Hier war das nicht der Fall. Jeder Luftzug war zu spüren, und es gab keine Möglichkeit, ein wärmendes Feuer zu entfachen. Immerhin war es ein ruhiges Plätzchen, das Ray ihnen da beschafft hatte. Alaïs wusste nicht, wie er das anstellte, aber ihr Vater schien auch in der Fremde stets Menschen zu kennen, von denen sich Hilfe erwarten ließ und die er auch überzeugen konnte, diese Hilfe zu gewähren. Ein Fischer, den er aus Hyères zu kennen vorgab, ließ sie in seinem Schuppen nächtigen, wo sein Boot stand und wo Netze
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