Die geheime Braut
stehen. Dann kann selbst Beelzebub uns nichts anhaben.«
Susanna konnte auf einmal kaum noch schlucken.
Sprach er zu ihr, weil seine Augen bis auf den Grund ihrer Seele schauen konnten, wie sie schon seit Längerem befürchtete?
Am liebsten wäre sie aufgesprungen und in ihre Kammer gelaufen, um sich unter der Decke zu verkriechen. Doch sie blieb sitzen und wartete ab, was der Reformator noch sagen würde.
»Sind wir dem Teufel nicht notgedrungen unterlegen?«, fragte einer der vorwitzigeren Studenten, dessen Teller schon blitzblank war, so gierig hatte er sein Essen hinuntergeschlungen. »Ist er nicht um vieles schlauer und stärker, als wir Menschen es jemals sein können?«
»Du vermagst nicht zu verhindern, dass ein Vogelschwarm über deinen Kopf hinwegfliegt.«
Luther leerte seinen Bierkrug in einem Zug und rülpste herzhaft.
»Aber du kannst sehr wohl verhindern, dass er sich in deinem Haar festsetzt. Lass die Angst niemals ganz Besitz von dir ergreifen! Denn das Schlimmste, was dir jemals widerfahren kann, ist die Angst vor der Angst.«
Seine Worte fuhren in Susanna wie ein glühender Pfeil, und plötzlich verstand sie, was der Reformator meinte.
Das war es, was sie seit Langem lähmte und krank machte: Angst vor der Angst.
Damals hatte sie sich diesem Teufel in Menschengestalt widersetzt und ihn dabei getötet – das hatte sie jedenfalls bis vor Kurzem angenommen. Doch wie durch ein böses Wunder war er offenbar am Leben geblieben.
Folglich war sie auch keine Mörderin!
Ein Gedanke, so ungeheuerlich, dass ihr schlagartig schwindelig wurde vor Erleichterung. Gleichzeitig rutschte die Last der Schuld von ihren Schultern, ein dunkles, übel riechendes Bündel, das sie klein gemacht und nach unten gedrückt hatte.
Warum nur hatte sie nicht früher klar gesehen?
Jener Unbekannte mit dem Strick war alles andere als ein aus dem Grab auferstandener Geist, wie sie erschrocken nach dem Überfall gemutmaßt hatte, sondern ein Verbrecher aus Fleisch und Blut, der sich so unangreifbar fühlte, dass er ungerührt weitere Untaten beging.
Susanna spürte klare, helle Wut in sich aufsteigen.
Doch dazu durfte es nicht kommen. Eine Tote war mehr als genug. Sie würde sich nicht länger verkriechen, das beschloss Susanna in diesem Augenblick, und wenn sie sich dabei tausendmal in Gefahr brachte.
Was aber konnte sie tun?
Hinaus auf die Gassen gehen und nach ihm suchen?
Oder lieber auf der Stelle mit Luther reden?
Aber dann müsste sie ihm ja auch eingestehen, was ihr in Leipzig zugestoßen war …
Für einen Moment kehrte die altbekannte Beklemmung zurück. Ihre Handflächen waren wieder schweißnass, die Füße trotz des warmen Wetters gefühllos und klamm.
Das Schlimmste ist die Angst vor der Angst, betete sie sich vor. Hast du es nicht gerade aus seinem Mund gehört – und bis in die letzte Faser begriffen?
Sie räusperte sich, um noch etwas Zeit zu gewinnen.
Doch der Reformator war bereits aufgestanden und nach oben in Richtung Studierzimmer verschwunden.
*
»Ich hasse diesen hässlichen Fetzen!« Marleins Stimme drohte sich zu überschlagen. »Was hast du da nur für mich nähen lassen! Das ist doch kein Kleid. Das ist ein Totenhemd.«
Griet war nahe daran, ihr recht zu geben.
Der weiße Stoff hing formlos an dem Mädchen herunter. Mit den offenen Locken, in die Marlein nach Griets Anweisung bunte Bänder geflochten hatte, sah sie aus wie eine hübsch zurechtgemachte Leiche.
»Probier doch mal das zweite!«, sagte Griet. »Vielleicht sitzt es ja besser.«
»Das werde ich nicht!« Marlein versetzte dem Kleid einen wütenden Fußtritt. »Ich habe keine Ahnung, was genau du mit mir vorhast, aber ich kann dir sagen, weshalb ich hier bin: um Männern Freude zu bereiten – und gewiss nicht, indem ich mich ihnen im Leichenhemd präsentiere.«
Sie riss sich das Gewand vom Leib und stand nackt vor der Hurenwirtin.
Welch atemberaubender Anblick!
Nichts als glatte milchweiße Haut, hie und da von Inseln dunklerer Sommersprossen gesprenkelt, die wie Schmuckbänder wirkten. Das Kindliche und gleichzeitig ungemein Verführerische dieses Körpers traf Griet wie ein Schlag.
Der Patron durfte dieses junge Wesen nicht in den Abgrund zerren! Sie musste alles versuchen, um Marlein zu retten.
»Bedeck dich wieder!«, sagte sie und warf ihr ein altes Kleid zu, das Marlein rasch überzog. »Ich kann verstehen, dass du das weiße Zeug nicht tragen magst. Aber dann kannst du auch nicht bei uns bleiben. So leid
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