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Die geheime Reise der Mariposa

Die geheime Reise der Mariposa

Titel: Die geheime Reise der Mariposa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Jungen auf den Farmen wirkte er beinahe zerbrechlich – zerbrechlich und blass wie Porzellan. Im transparenten Mondlicht sah das Gesicht des Jungen auf seltsame Art aus wie ein Puppenkopf, jedoch ein Puppenkopf ohne Wimpern und Augenbrauen … José beugte sich dichter über den Jungen. Nein, er hatte Wimpern. Sie waren nur ungewöhnlich hell. Und es war nicht das Mondlicht, das seine Haut so blass wirken ließ. Er war blass. Ein Europäer.
    Hübscher Kerl, sagte die Abuelita in Josés Kopf und lachte ihr altes, keckerndes Lachen – und José wünschte, er hätte sie treten können, doch man tritt alte Damen nicht, nicht mal in der Fantasie. Er beugte sich über den Jungen, um festzustellen, ob er atmete.
    Genau in diesem Moment schlug der Junge die Augen auf. Sie waren beunruhigend hell, genau wie seine Wimpern. Was, fragte sich José, sagte man zu einem Ausländer, dem man das Leben gerettet hatte? Er legte sich einen schönen englischen Satz zurecht, würdig der Situation …
    Da sagte der Junge in perfektem Spanisch: »Du Idiot!« Er hustete, spuckte noch einen Mundvoll Pazifik aus und fügte hinzu: »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, mich aus dem Wasser zu ziehen?«
    Als die Mariposa sich ihr näherte, war die Person, in deren Pass der Name Jonathan Smith stand, schon beinahe nicht mehr vorhanden. Das Meer hatte begonnen, Jonathans Lungen zu füllen, und er merkte, dass sein Körper sich wehrte. Er wollte sich nicht wehren, er wollte endlich heimkehren zu denen, die er verloren hatte: Mama. Papa. Julia. Sie waren tot, und um zu ihnen zu kommen, musste er ebenfalls sterben.
    Er spürte den festen Griff einer Hand, und zuerst dachte er, es wäre die seiner Mutter, die ihn zu sich hinüberzog. Aber dann schlug er die Augen auf und blickte in ein fremdes Gesicht, ein Gesicht mit dunklen Augen, groben Wangenknochen und sonnengefärbter Haut. Er sah sich um und merkte, dass er sich auf einem Boot befand und dass es noch immer Nacht war und um ihn noch immer das Meer.
    »Du Idiot!«, sagte er auf Spanisch. Er musste husten und spuckte einen Schwall Wasser aus. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, mich aus dem Wasser zu ziehen?«
    Sein Spanisch überraschte ihn selbst.
    Er hatte zwar auf der Überfahrt von Spanien kein Wort gesprochen, doch er musste wohl gelauscht haben, ohne es zu merken: tage-, nächte-, wochenlang. Und das wenige Spanisch, dass seine Mutter ihm beigebracht hatte, hatte sich in Jonathan ausgebreitet und war zu einem Garten aus Wörtern und Sätzen herangewachsen. Es war auf ganz natürliche Weise geschehen, ohne Absicht. Die Hülle, die Jonathan bis zu seinem Sturz ins Wasser gewesen war, hatte keine Absichten gehabt, keine Wünsche, keinen Willen.
    Aber Jonathan, der jetzt aus der zerbrochenen Hülle geschlüpft war, hatte durchaus einen Willen. Er hatte sich entschlossen, diese Welt zu verlassen – diese Welt, in der manche Menschen im Paradies lebten, auf Inseln voll blühender Bäume, und andere in der Hölle, zwischen lichtlosen Nächten und verbrannten Hoffnungen. Er wollte zu seiner Familie. Er wollte verdammt noch mal nicht beim Sterben gestört werden.
    »Ich habe dich gerettet«, sagte der Junge, der ihn aus dem Wasser gezogen hatte, mit großem Ernst. »Mein Name ist José und ich habe dich gerettet.«
    »Ich habe nicht darum gebeten, gerettet zu werden«, sagte Jonathan.
    José ging nicht darauf ein. »Du musst etwas Trockenes anziehen«, sagte er. »Dahinten liegt mein Rucksack. Es sind ein paar Kleider drin. Ich kümmere mich um mein Steuer. Die Mariposa ist ein gutes Schiff, aber ewig steuert sie sich nicht selbst.«
    Jonathan kam auf die Beine, hielt sich an der Reling fest und spuckte noch einen Schwall Meerwasser aus. Er hatte wieder über Bord klettern wollen, sich zurückfallen lassen ins Wasser, das fortsetzen, was er begonnen hatte – aber auf einmal fehlte ihm die Kraft. Er war müde, unendlich müde. Sterben kostet Kraft. Morgen, dachte er. Morgen vielleicht.
    Er fror. Er fand den Rucksack, und beinahe erschien es ihm jetzt zu anstrengend, sich danach zu bücken. Er sah, dass José ihn beobachtete. »Ich … gehe … in die Kajüte, um die Sachen anzuziehen«, sagte er.
    José zuckte die Schultern. »Bitte.«
    Jonathan öffnete die winzige Tür am Ende der Treppe. In der Kajüte war es dunkel, er konnte nur einzelne Schemen erkennen: einen Tisch und zwei schmale Bänke, Regale … Er tastete sich durch den Inhalt von Josés Rucksack, fand ein Hemd und eine

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