Die geheimen Jahre
bei Tante Hilly gelernt hatte. »Plus. Comme ça, sâil vous plaît.«
Sie zeigte mit der Hand auf eine Höhe etwa zur Hälfte zwischen Wangenknochen und Kinn. Die Friseuse protestierte: Mademoiselle habe so schönes Haar, und die Mode, kurzes Haar zu tragen, ginge schnell vorüber. Thomasine runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Comme ça.«
Die Friseuse gab zwar Laute des MiÃfallens von sich, nahm aber zugleich die Schere. GroÃe Büschel roten Haars fielen zu Boden. Alice, die sich neben ihr die Fingernägel maniküren lieÃ, schrie auf.
»Was wird deine Tante sagen?«
Thomasine antwortete nicht. Im Spiegel vor ihr tauchte allmählich ein anderer Anblick auf. Ohne den schweren viktorianischen Rahmen aus dichtem Haar sah ihr Gesicht anders aus. Ihr Kopf fühlte sich so leicht an, als wollte er jeden Moment davonschweben.
Clive Curran hatte Miss Thorne schon bei der ersten Probe bemerkt. Sie war das hübscheste Mädchen unter dem Dutzend junger Engländerinnen, die angeheuert worden waren, um ihre Beine zu werfen und zu lächeln, denn darin bestand ihre Hauptfunktion in der Revue, der es an guten Songs und Sketches mangelte. Anfänglich jedoch interessierte sich Clive mehr für Clara Rose, die Hauptdarstellerin, die angeblich sehr reich sein sollte. Aber Clara hatte eine messerscharfe Zunge und auÃerdem gerade eine Affäre mit einem Pariser Bankier.
Das kurze Haar stand Miss Thorne, es lieà sie erwachsener und fraulicher wirken. Sie hatte blaugrüne Augen und einen groÃen, vollen Mund. Clive hatte es gefallen, diesen vom Champagner glänzenden Mund zu küssen. Er hatte herausgefunden, daà Miss Thornes Vorname Thomasine war, was er zwar lächerlich fand, aber seiner Meinung nach zu ihr paÃte. Ungewöhnlich, unkonventionell. Clive hielt sich für unkonventionell â für jemanden, der die starren Regeln miÃachtete, die die Gesellschaft auferlegte. Thomasine war eine ausgezeichnete Tänzerin und hatte hübsche Beine und ein reizendes Lächeln. Da seine Bemühungen um die Hauptdarstellerin im Moment erfolglos waren, hatte er beschlossen, sich Miss Thorne zuzuwenden. Man konnte ja nie wissen â vielleicht machte dies das Miststück Clara sogar eifersüchtig. Als nach der Abendvorstellung der letzte Vorhang fiel und alle erschöpft von der Bühne eilten, sagte Clive zu Thomasine: »Sie haben sich das Haar abschneiden lassen.«
Sie lächelte erfreut. »Die Anstandsdame hat mich deswegen schon gerügt. Werden Sie das auch tun, Mr. Curran?«
Er war sich nicht sicher, ob sie mit ihm flirtete oder nicht, und schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Sie sieht wie ein Junge aus, nicht wahr, Clara?« sagte Clive zu der Hauptdarstellerin, die neben ihm stand. »Vor allem in dem Matrosenanzug.«
In der letzten Nummer trugen die Tänzerinnen kurze Matrosenhosen, Matrosenjäckchen und weiÃgepaspelte Hüte. Es war ein grotesker, aber ziemlich attraktiver Aufzug.
»Es gibt Klubs im Westend, die ein Vermögen dafür bezahlen würden«, stimmte Clara Rose eisig zu.
Miststück , dachte Clive. »Es steht Ihnen, SüÃe«, sagte er zu Thomasine. Er streckte die Hand aus und zerzauste den glänzenden Haarhelm.
Sie dankte ihm für das Kompliment und lief in die Garderobe. Clara Rose nahm einen Seidenschal von der Seitenkulisse und folgte ihr. Clive blieb ziemlich amüsiert auf der Bühne zurück.
Eine Stimme flüsterte in sein Ohr: »Sie wurde von einem Haufen alter Jungfern aufgezogen, und ihr GroÃvater war Pfarrer. Kein Mädchen für Sie, mein lieber Clive.«
Er drehte sich um und erblickte Alice. Während der letzten Wochen hatte er Alice ziemlich oft gesehen. Aber sie besaà kein Geheimnis, dachte Clive, als er den Blick über sie gleiten lieÃ. Man bekam, was man sah. Wenn man blonde Locken, blaue Augen und eine hübsch geformte Figur mochte, war es gut und schön. Clive konnte es jedoch nicht leiden, wenn man ihm seine Grenzen aufzeigte. Er glaubte nicht, daà es welche für ihn gab.
»Ich würde sagen, daà ich das selbst beurteilen kann, finden Sie nicht, Miss Johnson?« Er freute sich, als er einen Anflug von Ãrger in ihren Augen aufblitzen sah.
»Sie würden nicht weiter kommen als bis zu einem Kuë, sagte sie verächtlich.
Alice wurde gerade ein Quentchen zu selbstgefällig, zu
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