Die Geisel von Zir
»Es gibt hier so eine Art Kreuzung zwischen einem Krokodil und einer jungen Seeschlange. Lassen wir das mit dem Schwimmen also besser. Professor Mulroy, wie wär’s, wenn Sie uns ein bisschen was von der einheimischen Fauna und Flora erzählen würden?«
Auf seiner Südamerikatour hatte Reith gelernt, dass es immer von Nutzen war, wenn man seinen Schäfchen, insbesondere in Phasen längerer Inaktivität, irgend etwas Spannendes bot, um sie bei Laune zu halten und nicht auf dumme Gedanken kommen zu lassen. Der ältliche Paläontologe ließ sich denn auch nicht zweimal bitten und hub sogleich feurig zu einem ausgedehnten Referat an:
»… ihr müsst wissen, die Evolution der Vertebraten auf Krishna verlief in vieler Hinsicht parallel zu der auf der Erde und in bestimmten Punkten doch wieder ganz unterschiedlich. Während auf der Erde eine Gruppe der Fische, nämlich die Crossopterygii, den Sprung vom Wasser auf das Land vollzogen, waren es auf Krishna zwei: die Tetrapoden, die ovipar geblieben sind, obwohl sie auch die hominoide Spezies einschließen, und die Hexapoden, die sich schon früh zu Lebendgebärenden entwickelten.«
»Wie ist das zu erklären?« fragte Mrs. Whitney Scott, der selten etwas entging.
»Wahrscheinlich resultiert das auf der Tatsache, dass auf der Erde die Kontinente Inseln sind, die von einem weltweiten Ozean umgeben sind, während es auf Krishna umgekehrt ist: Die Meere sind von einer weltweiten Landmasse umgebene Seen. So wurde der Sprung vom Wasser aufs Land zweimal unabhängig voneinander vollzogen. Es gibt eine irdische Parallele zu diesem Phänomen, nämlich bei den Periphtalmidae …«
»Den was?« fragte Considine.
»Eine Familie halb zu Wasser, halb zu Land lebender Grundeln, auch bekannt unter dem Namen › Schlamm-Springer^ die in Südostasien vorkommt. Sie haben den Sprung zum Leben auf dem Land gerade begonnen. Andererseits nun weisen die krishnanischen Land-Vertebraten nicht eine so scharfe Trennlinie zwischen Amphibien, Reptilien und Mammalien – also Säugern – auf, wie wir es von der Erde her gewohnt sind. Der Homoiothermismus – also die Warmblütigkeit – hingegen entwickelte sich schon sehr früh auf beiden Pia …«
»Und was ist mit Vögeln?« fragte Shirley Waterford dazwischen.
»Mit denen verhält es sich wie mit den Schlangen in Irland: Es gibt keine. Die krishnanische Fauna hat niemals die Feder entwickelt, daher sind die hier vorkommenden fliegenden Organismen eher mit unseren Fledermäusen und Pterosauriern – das sind ausgestorbene Flugechsen – vergleichbar als mit der Klasse Aves. Wenn wir nun auf der Evolutionsleiter eine Sprosse höher steigen …«
»Entschuldigen Sie, Professor«, mischte sich ein dicker braunhäutiger Passagier ein, einer von denen, die nicht zu Reiths Gruppe gehörten. »Sie scheinen auch der falschen Theorie anzuhängen, dass alle diese Spuren, die auf eine Evolution hinweisen, sei es auf der Erde oder auf anderen Planeten, Beweis genug dafür sind, dass es tatsächlich diese Evolution gegeben hat.«
»Ja, und?« schnappte Mulroy.
»Wir Diener der Herren des Lichts wissen, dass die Wahrheit eine andere ist. Die göttliche Offenbarung beweist, dass alle diese Fossilien von den Herren der Finsternis – dem Teufel, wie Sie wohl sagen würden – auf die Erde gebracht und dortselbst vergraben wurden, um die Menschen in die Irre zu führen und von der Wahrheit der Göttlichen Schöpfung abzulenken …«
»Sie sind wer, wenn ich fragen darf, Sir …?« fragte Mulroy gereizt dazwischen.
»Oh, verzeihen Sie. Ich bin Ganesh Kosambi von Bombay, demütiger Diener und Beauftragter der Missionarsbrüderschaft der Kirche der Herren des Lichts …«
»Entschuldigen Sie, Mister Kosambi«, mischte Reith sich ein, »aber ich möchte Sie doch bitten, Professor Mulroy seinen Vortrag zu Ende führen zu lassen. Wir haben noch genug Zeit bis Majbur. Wenn sie heute Nachmittag predigen wollen, werden wir Ihnen sicherlich gern zuhören.«
Kosambi gab nach. Als der Nachmittag nahte, versammelten sich die, die nicht schliefen, im Bug, um dem Missionar zu lauschen. Kosambi erzählte, wie seine Sekte von Tallal Homsi, einem Syrer, gegründet worden war, nämlich dergestalt, dass Gott ihn an eine Stelle geführt hatte, an der ein Buch in unbekannter Schrift auf Blättern aus Goldsilberlegierung vergraben lag. Gleichzeitig hatte Gott ihn mit einer Wunderbrille ausgestattet. Diese, so berichtete Kosambi, hätte Tallal Homsi befähigt (ehe er von
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