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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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meine Bestimmung, Sassenach. Eigentlich hätte Willie der Gutsherr sein sollen. Wenn er noch am Leben wäre, wäre ich wohl Soldat geworden - vielleicht auch Kaufmann, wie Jared.«
    Willie, Jamies älterer Bruder, war im Alter von elf Jahren an Pocken gestorben, und so war sein kleiner Bruder, damals sechs, der Erbe von Lallybroch.
    Er zuckte leicht mit den Schultern, als würde ihn sein Hemd kneifen. Er tat das immer, wenn er verlegen oder unsicher war; ich hatte es schon seit Monaten nicht mehr an ihm beobachtet.
    »Aber Willie ist tot. Und so bin ich der Herr geworden.« Er sah mich an, ein bißchen scheu, dann griff er in seine Felltasche und holte etwas heraus. In seiner Hand lag eine kleine Schlange aus Kirschholz, die Willie ihm zum Geburtstag geschnitzt hatte. Ihr Kopf war etwas verdreht, als wunderte sie sich über ihren eigenen Schwanz.
    Jamie strich sanft über die Schlange; das schimmernde Holz war etwas abgegriffen, die Windungen des Schlangenkörpers glänzten wie Schuppen im frühen Dämmerlicht.
    »Manchmal unterhalte ich mich in Gedanken mit Willie«, erzählte Jamie, während er mit der Schlange spielte. »Wenn du noch leben würdest, Bruder, wenn du der Gutsherr wärst, wie es vorgesehen war, hättest du es genauso gemacht wie ich? Oder hättest du einen besseren Weg gefunden?« Er blickte mich an und errötete leicht. »Klingt das verrückt?«
    »Nein.« Ich berührte den glatten Kopf der Schlange mit den Fingerspitzen. Durch die kristallklare Abendluft drang das hohe, helle Zwitschern einer Feldlerche.
    »Ich mache das auch«, sagte ich nach einer Pause leise. »Mit
Onkel Lamb. Und mit meinen Eltern. Besonders mit meiner Mutter. Ich - ich habe nicht oft an sie gedacht, als ich jung war, nur manchmal habe ich von ihr geträumt. Sie war weich und warm und hatte eine wunderbare Singstimme. Aber als ich krank war, nach... Faith - manchmal habe ich mir vorgestellt, sie wäre da. Bei mir.« Mich überfiel eine tiefe Traurigkeit, als ich an die Verluste aus alter und neuer Zeit dachte.
    Jamie berührte sanft mein Gesicht und wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel.
    »Manchmal denke ich, die Toten hängen an uns genau wie wir an ihnen«, sagte er leise. »Komm, Sassenach, gehen wir weiter. Es ist bald Essenszeit.«
    Er hakte sich bei mir unter, und langsam setzten wir unseren Weg fort.
    »Ich verstehe, was du meinst, Sassenach«, meinte Jamie. »Ich höre manchmal die Stimme meines Vaters, in der Scheune, auf den Feldern. Auch wenn ich sonst nicht an ihn denke. Doch manchmal schau’ ich mich um, als ob ich ihn gerade draußen gehört hätte, wie er mit einem der Pächter lacht, oder wie er gerade ein Pferd zureitet.«
    Er lachte plötzlich und deutete auf die Weide vor uns.
    »Es ist ein Wunder, daß ich ihn hier noch nie gehört habe.«
    Es war eine ganz unscheinbare Stelle - ein Holzgatter in der Steinmauer, die parallel zur Straße verlief.
    »Wirklich? Was hat er denn hier immer gesagt?«
    »Meist dies: ›Wenn du fertig bist mit Reden, Jamie, dreh dich um und beug dich drüber.‹«
    Wir lachten und blieben an dem Gatter stehen.
    »Also hier bist du verhauen worden? Ich sehe gar keine Zahnabdrücke«, sagte ich und betrachtete das Holz.
    »Nein, so schlimm war es nicht«, erwiderte er lachend und strich zärtlich über das verwitterte Eschenholz.
    »Oft rissen wir uns Holzsplitter in die Finger, Ian und ich. Dann gingen wir ins Haus, und Mrs. Crook oder Jenny zogen sie uns schimpfend wieder heraus.«
    Er sah zum Haus hin, dessen Fenster im Erdgeschoß hell erleuchtet waren. Dunkle Schatten bewegten sich in den Räumen; kleine, flinke Schatten huschten hinter den Küchenfenstern, wo Mrs. Crook und die Mägde das Abendessen vorbereiteten. Ein größerer
Schatten, groß und schlank wie eine Zaunlatte, erschien plötzlich in einem der Wohnzimmerfenster. Es war Ian, der einen Augenblick im Licht stehenblieb, als wäre er durch Jamies Erinnerungen herbeigerufen worden. Dann zog er die Vorhänge zu.
    »Ich war immer froh, wenn Ian dabei war«, fuhr Jamie fort, den Blick immer noch auf das Haus gerichtet. »Wenn wir bei einem Streich erwischt wurden und dafür eine Tracht Prügel bekamen, meine ich.«
    »Geteiltes Leid ist halbes Leid, stimmt’s?« erwiderte ich lächelnd.
    »Ein bißchen schon. Ich fühlte mich nicht ganz so schäbig, wenn wir zu zweit waren. Aber wohl vor allem deshalb, weil ich darauf zählen konnte, daß er eine Menge Lärm machen würde.«
    »Wie? Du meinst, weil er so geschrien

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