Die Geliehene Zeit
Felder gehen. Ich glaube nicht, daß es ihnen heute noch bewußt ist, aber Jamie geht immer links, Ian rechts und schützt so Jamies schwache Seite.«
Jenny blickte aus dem Fenster und legte eine Hand auf die leichte Wölbung ihres Bauches; die Näharbeit lag unbeachtet in ihrem Schoß.
»Hoffentlich ist es ein Junge«, bemerkte sie und sah hinaus zu ihrem Sohn. »Ob Linkshänder oder nicht, es ist gut, wenn ein Mann einen Bruder hat, der ihm zur Seite steht.« Ich blickte - wie Jenny - auf das Bild an der Wand: Es zeigte Jamie als kleines Kind, das zwischen den Knien seines älteren Bruders Willie stand. Beide hatten Stupsnasen und schauten ernst drein. Willies Hand ruhte schützend auf der Schulter seines Bruders.
»Zum Glück hat Jamie Ian«, sagte ich.
Jenny zwinkerte. Sie war zwei Jahre älter als Jamie und demnach drei Jahre jünger, als Willie jetzt gewesen wäre.
»Aye, das stimmt. Und es ist auch mein Glück«, nickte sie sanft und nahm ihre Näharbeit wieder auf.
Ich holte einen Kinderkittel aus dem Nähkorb und stülpte die Innenseite nach außen, um den aufgetrennten Saum unter dem Ärmel zu flicken. Die Kälte draußen war nur erträglich für spielende Kinder und arbeitende Männer; drinnen im Salon war es warm und behaglich. Die Fensterscheiben, die uns vor der Eiseskälte
draußen schützten, beschlugen rasch, während wir dasaßen und arbeiteten.
»Apropos Brüder«, sagte ich und kniff die Augen zusammen, als ich den Faden durchs Nadelöhr führte, »hast du Dougal und Colum MacKenzie oft gesehen, als du klein warst?«
Jenny schüttelte den Kopf. »Ich habe Colum nie kennengelernt. Dougal war ein-, zweimal hier, als er Jamie zu Silvester herbrachte, aber ich kann nicht behaupten, daß ich ihn gut kenne.« Sie blickte von ihrer Näharbeit auf und sah mich mit großen Augen an. »Du kennst sie doch. Sag, was ist Colum MacKenzie für ein Mensch? Ich wollte immer mehr über ihn erfahren. Nach dem wenigen, das ich von Besuchern gehört hatte, bin ich neugierig geworden, aber meine Eltern haben nie über ihn gesprochen.« Sie runzelte die Stirn.
»Nein, stimmt gar nicht; mein Vater sagte einmal etwas über ihn. Das war, kurz nachdem Dougal wieder abgereist war und Jamie nach Beannachd mitgenommen hatte. Vater lehnte draußen am Zaun und sah ihnen hinterher, wie sie davonritten, und ich winkte Jamie nach - ich war jedesmal todtraurig, wenn er wieder fortging, da ich nicht wußte, wie lange er wegblieb. Kurz und gut, wir sahen ihnen nach, wie sie hinter dem Hügel verschwanden, und dann drehte sich mein Vater um, seufzte und sagte: ›Gott stehe Dougal MacKenzie bei, wenn sein Bruder Colum stirbt.‹ Dann schien er sich daran zu erinnern, daß ich neben ihm stand, denn er sah mich an, lächelte und meinte: ›Na, Mädel, was gibt’s zum Abendessen?‹ Dann verlor er kein Wort mehr darüber.« Jennys schwarze Augenbrauen, keck und fein wie kalligraphische Zeichen, hoben sich fragend.
»Das erschien mir merkwürdig, denn jeder weiß, daß Colum schwer verkrüppelt ist und Dougal an seiner Stelle die Führung übernommen hat, die Pacht eintreibt, Forderungen erfüllt - und falls nötig, den Clan in den Kampf führt.«
»Ja, das stimmt, aber...« Ich zögerte, da ich nicht genau wußte, wie ich diese seltsame symbiotische Beziehung beschreiben sollte. »Einmal«, fuhr ich mit einem Lächeln fort, »habe ich sie streiten hören, und da sagte Colum zu Dougal: ›Wenn die Brüder MacKenzie sich einen Schwanz und ein Gehirn teilen müssen, dann bin ich froh über meinen Anteil an diesem Geschäft!‹«
Jenny lachte laut auf, dann blickte sie mich erstaunt an, und ihre Augen, die denen ihres Bruders so ähnlich waren, funkelten nachdenklich.
»Ach, so ist das also. Ich habe mich einmal über Dougal gewundert, als er über Colums Sohn, den kleinen Hamish, sprach - mit einer Begeisterung, die für einen Onkel höchst ungewöhnlich war.«
»Du bist fix, Jenny«, sagte ich und sah sie an. »Sehr fix. Ich habe lange gebraucht, bis ich das herausgefunden hatte, und ich habe sie monatelang tagtäglich gesehen.«
Sie zuckte bescheiden die Schultern, doch ein schwaches Lächeln spielte um ihre Lippen.
»Ich höre genau hin«, erwiderte sie, »was die Leute sagen - und was sie verschweigen. Und die Leute hier im Hochland sind zuweilen furchtbar klatschsüchtig. Nun also«, sie biß ein Stück Faden ab und spuckte das Fadenende in ihre Handfläche, »erzähl mir von Leoch. Die Leute sagen, es ist groß, aber
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