Die gelöschte Welt
völlig. Er ist so alt, dass man den Unterschied kaum erkennt.
Der Mann, der durchs linke Fenster einsteigt, ist groß, was die Lautlosigkeit seiner Bewegungen noch unheimlicher macht. Er ist erstaunlich gut in Form, denn um so schnell und leise durchs Fenster zu steigen, muss er auf einem Bein stehen, das andere hochheben, nach drinnen ausstrecken und das Gewicht auf den anderen Fuß verlagern, ohne das Gleichgewicht und die Kontrolle zu verlieren. All dies muss er auch noch in Windeseile tun. Die Glocken am Fenster klimpern ein einziges Mal, ehe er sie anhält.
Meister Wu wacht nicht auf. Er murmelt etwas, tastet nach der Tupperware-Box. Der Eindringling erstarrt. Zwei weitere Männer steigen durch dasselbe Fenster ein. Noch mehr Männer warten im Garten. Eine regelrechte Armee ist aufmarschiert. Die Ninjas – die Fußsoldaten der Uhrwerksgilde – sind endlich gekommen, um Wu Shenyang zu töten. Als sie den alten Kerl betrachten, der im Stuhl döst, und erkennen müssen, dass sie den ganzen Weg in so großer Zahl und mit solcher Vorsicht gekommen sind, nur um einen achtzigjährigen Greis zu töten, stößt der Anführer ein leises, unangenehmes Kichern aus.
Der Deckel der Tupperware-Box trifft ihn über dem Auge. Es ist kein gefährlicher Schnitt, aber seine Stirn blutet, und er kann nicht mehr richtig sehen. Fast sofort verliert er die räumliche Wahrnehmung, und deshalb kann er sich nicht verteidigen, als Meister Wu sich ihm aus dem Schaukelstuhl fast in die Arme wirft. Er stößt und sticht mit dem langen Messer und findet ein Ziel, aber bei diesem Ziel handelt es sich um den Boden der Tupperware-Box. Meister Wu dreht sie abrupt herum, das Plastik saugt sich an die Messerklinge, und der Mann kann die Waffe weder zurückziehen noch richtig festhalten. So läuft er Gefahr, entwaffnet zu werden. Instinktiv entscheidet er sich dafür, die Waffe festzuhalten, zumal er sowieso schon halb blind ist und noch nicht richtig begriffen hat, was sich vor ihm abspielt. Meister Wu macht gar nicht den Versuch, ihm das Messer abzunehmen. Er lässt zu, dass sich der Feind bewegt und folgt dieser Bewegung, führt sie fort und beherrscht sie auf einmal. Der Mann stellt nun fest, dass seine Hüften nicht mehr seinen Füßen folgen und seine Hände zu weit von der Mittelachse seines Körpers entfernt sind, sodass er die Kraft seiner Arme nicht mehr einsetzen kann. Es endet damit, dass Meister Wu das lange Messer an sich nimmt und der große Mann auf Zehenspitzen steht, weil die rasiermesserscharfe Klinge unter sein Kinn drückt. Das hat man davon, wenn man die Schönheit der Tupperware missachtet.
Meister Wu verzichtet in diesem Augenblick darauf, den Gegner zu töten. Diese Milde ist das, was einen guten Mann ausmacht. Er schlägt ihn nur bewusstlos und hofft einen Moment lang, dass der Angreifer danach über den Weg nachdenken wird, den zu beschreiten er sich entschieden hat. Anschließend tritt er gewandt zwischen zwei weiteren Gegnern hindurch und sorgt dafür, dass sie ihre Angriffe gegeneinander richten. Bedauerlicherweise sind sie unbedingt entschlossen, ihn zu töten, und deshalb zieht einer sich eine hässliche Wunde im oberen Brustkorb zu. Dies lenkt seinen Partner ab, und Meister Wu ergreift die Gelegenheit und schleudert ihn gegen zwei weitere Eindringlinge, die unabhängig von den anderen ebenfalls angreifen wollten.
So geht der Kampf mit wundervoll fließenden Bewegungen weiter, aber irgendwann wird Meister Wu etwas bewusst. Er wird müde, sie jedoch nicht. Er ist unverletzt, aber er kann sich nicht die geringste Verletzung erlauben, weil er sonst verliert. Er muss perfekt sein, die anderen brauchen nur beharrlich zu bleiben. Ihm wird klar, dass weitere Männer kommen werden, und das Wann und Wo wird er nicht bestimmen können, selbst wenn es ihm gelingt, diese hier zu besiegen, selbst wenn er sie einen nach dem anderen tötet. Wenn er den Kampf noch länger fortsetzt, kommen irgendwann auch Yumei und Ophelia nach Hause, und auch wenn sie nicht ermordet werden, geraten sie ins Visier der Angreifer. Bislang könnte Meister Wu auch ein Junggeselle sein. Die Ninjas wissen nichts über seine Angehörigen, weil sie keine Zeit hatten, sich im Haus umzusehen und die Familienfotos zu betrachten. Bisher haben sie nur diesen einen Raum gesehen – und waren stark beschäftigt. Sie haben auch keine Ahnung, wer Meister Wus Schüler sind. All diese Informationen lagern im Schreibtisch. Deshalb ist er selbst das schwächste
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