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Die Geschichte der Deutschen

Die Geschichte der Deutschen

Titel: Die Geschichte der Deutschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm von Sternburg
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damit die Lage zu beruhigen. Das regionale Ereignis weitet sich zu einer reichsweiten Debatte aus. Sie berührt eine der Grundfragen des Wilhelminismus: die Sonderrolle des Militärs im Staat.
    In Alfred Tirpitz, dem ehemaligen Chef des Marine-Oberkommandos, findet Wilhelm II. mit seiner Begeisterung für die großen Meeresflotten einen tatkräftigen Verbündeten. Tirpitz entwickelt ein Konzept zum Aufbau einer deutschen Kriegsmarine. Deutschland besitzt bereits die stärkste europäische Landarmee. Jetzt will man auf den Meeren mit der englischen Flotte gleichziehen. Es ist nicht schwer nachzuvollziehen, mit welchem Misstrauen die Großmächte die Pläne Berlins verfolgen. Der neue Admiral an Wilhelms Seite ist nicht nur ein begabter Organisator, sondern auch ein glänzender Mann des Marketings. Er setzt eine Propagandawelle in Bewegung, die zu einer kaum fassbaren Euphorie im Land führt. Der Deutsche Flottenverein wird gegründet und hat bald über eine Million Mitglieder. Eine Flut von Broschüren und Schriften erscheint, die den Deutschen von Seeschlachten, den Abenteuern mutiger Seefahrer oder fernen exotischen Ländern erzählt. Kein deutsches Kind ist bald zu sehen, das nicht beim Sonntagsspaziergang einen Matrosenanzug trägt.
    Tirpitz setzt die parlamentarische Bewilligung großer Geldsummen durch. Natürlich unterstützt ihn der Kaiser, der den Ausbau der Kriegsmarine zu seiner ureigenen Sache gemacht hat. Auch sonst widerspricht dem Marine-Admiral fast niemand. Nur die Sozialdemokraten tun es, aber selbst unter ihren Wählern ist das Flottenbauprogramm keineswegs unpopulär. Das Reich hat damit einen brandgefährlichen Weg eingeschlagen. Die wilhelminische Marinepolitik wird in einem Desaster enden. Ab 1906 werden Großkampfschiffe gebaut, was ein Wettrüsten zwischen Deutschland und England auslöst, das der Inselstaat, vom Ende her betrachtet, mühelos gewinnt. Nie erreichen die Deutschen bis 1914 auch nur annähernd die Stärke der britischen Kriegsmarine. Im Ersten Weltkrieg kommt es zu einer einzigen Seeschlacht zwischen den beiden Rivalen – 1916 im Skagerrak, einem Meeresarm zwischen Norwegen und Schweden –, in der sich die deutsche Hochseeflotte nur durch die Flucht vor der Vernichtung retten kann. Ansonsten liegt sie bis zum Kriegsende tatenlos in den norddeutschen Häfen. Allein die U-Boote kämpfen. Ihr Einsatz liefert dann Amerika den Anlass, im |184| April 1917 auf der Seite von Deutschlands Gegnern in den europäischen Krieg einzugreifen und das Ende zu erzwingen.
    Doch von den heraufziehenden – und durchaus absehbaren – Gefahren will man im Reich nichts wissen. Im Inneren schürt der Flottenbau die nationalistische Hochstimmung. Man empfindet ihn allgemein als einen wichtigen Schritt in der allseits geforderten deutschen »Weltpolitik«. Den Ton vorgegeben hat Reichskanzler von Bülow schon am 6. Dezember 1897: »Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront – diese Zeiten sind vorbei ... Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.«
    Außenpolitisch spielt die Flottenpolitik in der Bündnisfrage eine bedeutende und negative Rolle. England steht traditionell durch seine Empire-Interessen in konfliktreichen Beziehungen zu Russland. In vielen Regionen des Nahen Ostens gibt es zudem strittige Fragen mit Frankreich. Mit dem Bau von Großkampfschiffen auf den deutschen Werften setzt nun Londons außenpolitische Umorientierung ein. England gibt seine »splendid isolation« auf und beginnt sich nach Partnern umzublicken.
    In Berlin hingegen besitzt das enge Bündnis mit Österreich nach wie vor Priorität. Und da die Habsburger mit Russland auf dem Balkan konkurrieren – es geht um die Zukunft Bulgariens, Serbiens, Montenegros, Rumäniens – wächst bald auch die Kluft zwischen Berlin und Petersburg. Frankreich ist ohnehin für jede Koalition offen, die sich gegen Deutschland richtet. So zeichnet sich ganz allmählich die Isolierung des Reiches ab. Die illusionäre Propaganda der deutschen »Weltpolitiker« am Hof und in den Flotten- und Vaterlandsvereinen verführt ihre Landsleute, macht sie weitgehend blind für die Gefahren, die eine solche Politik heraufbeschwört. Die deutsche Außenpolitik versucht zwar neue Bündnisse zu schmieden und strebt beispielsweise ein Flottenabkommen mit England an, das ein völliges

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