Die guten Schwestern
egal, denn was ich hier mache, ist so wie etwas in Seife oder Sand zu ritzen. Wenn ich fertig bin, wische ich meine Gedanken wieder aus.
Ich sitze in einer Zelle. Ich schätze sie auf sieben Quadratmeter. Es gibt eine Pritsche, ein Waschbecken und einen kleinen Tisch. Die Wände sind häßlich und gelb. Es ist Nacht. Ich nehme den Mond durch das kleine Fensterchen wahr, das sich hoch über meinem Kopf befindet. Bis zur Decke, schätze ich, sind es drei Meter. Ich spüre das goldene Licht über dem Westgefängnis in Kopenhagen, das mich so gerne streicheln würde, wenn es dürfte. Ich bin eine politische Gefangene in einem Land, das sich gern damit brüstet, zivilisiert und demokratisch zu sein, aber in seiner Heuchelei die schlimmste Form der Folter ausübt, nämlich einen Menschen von seinen Mitmenschen zu isolieren.
Ich darf eine Stunde pro Woche mit einem Familienmitglied sprechen, natürlich überwacht. Neulich war Fritz da und saß schwer und wortkarg, wie er halt so ist, im Besucherraum und redete von seinen Broten und Semmeln und hatte wegen des Beamten, der das Gespräch überwachte, keine Ruhe. Er ist wie Vater. Wie Vater ausgesehen haben könnte, wenn ihm ein normales Leben vergönnt gewesen wäre. Ohne Vaters Charme, aber mit seinem Talent, Geschäfte zu machen. Fritz wirkt schwerfällig, ist aber klüger, als man denkt. Aber über wichtige, persönliche Dinge kann man mit ihm nicht sprechen. Für ihn dreht sich alles um Semmeln und Weißbrot. Wenn er bloß sein Auskommen hat, wenn er auf die Jagd gehen, es sich mit seiner Frau gemütlich machen und dafür sorgen kann, daß die Fabrik läuft, wenn die Renten sich in vertretbarem Maße vermehren und wenn er weiß, daß seine Kinder weiterhin gut gedeihen, dann ist Fritz ein glücklicher Mensch. Teddy war noch nicht hier. Er war auf Reisen, als ich verhaftet wurde. Aber er hat mir einen Anwalt besorgt, er muß also inzwischen nach Hause gekommen sein. Ich gehe also davon aus, meinen oberflächlichen, aber klugen und cleveren kleinen Bruder bald mal zu Gesicht zu bekommen.
Im übrigen folgt hier ein Verhör dem nächsten. Ich höre an ihren Fragen, daß sie mit allen sprechen, die ich kenne, aber sie haben nichts in der Hand, und sie verstehen nicht, daß die Welt sich geändert hat. Sie sind Herdentiere, die nie wie Du und ich verstanden haben, daß die Welt ein ungerechter Ort ist, den nur die Auserwählten verändern können, damit alle Menschen ein besseres Leben bekommen. Sie sind Marionetten im grausamen Puppenspiel des Kapitals, in dem die Leute mit Coca-Cola und Fernsehen verführt werden. Wo ein Direktor in den USA genausoviel verdient wie 479000 Landarbeiter in Zimbabwe, wie in einer der Zeitungen steht, die sie mir immerhin zu lesen geben. Daß wir in der reichen Welt nur zehn Prozent sind, die es sich aber erlauben, auf 86 Prozent der Ressourcen zu sitzen. Ich brauche Dich nicht zu fragen: Ist das die Gerechtigkeit des Liberalismus, denn Du kennst die Antwort ebenso wie ich. Wir glaubten an eine andere Gesellschaft. Die Torheit des Menschen zerstörte unsere Träume, aber heißt das, wir sollen das Kind mit dem Bade ausschütten? Werden die Christen Jesus entsagen, nur weil die Kirche in seinem Namen jahrhundertelang unbeschreibliche Verbrechen beging? Sollen wir also unserer grundsätzlichen Erkenntnis entsagen, nur weil einzelne Personen die großen sozialistischen und kommunistischen Ideen entweiht haben? Auch ich habe das Gefühl, daß eine neue Generation junger Leute herangewachsen ist, die die Zusammenhänge wieder erkennt. Sie haben sich des Traumas der Niederlage des Sozialismus entledigt und haben angefangen, mit Worten und Demonstrationen gegen die globale Ungerechtigkeit zu protestieren.
Ich wollte nicht über Politik mit Dir reden, Schwester. Ich wollte heute nacht einfach mit Dir sprechen. Ich kann sowieso nicht schlafen, und die Zeit vergeht langsam. Ich weiß, morgen kommen sie wieder mit ihren ewigen, zwar höflichen, aber anklagenden Fragen. Sie glauben, sie hätten die Antworten und wollen mich nur dazu bringen, sie in ihrer Unwissenheit zu bestätigen, aber das tue ich nicht.
Draußen ist es inzwischen dunkler geworden, der Mond ist verschwunden, und ich höre den Regen, der gegen die Mauer und das kleine Fenster prasselt. Das Geräusch des frühen, kalten Frühlingsregens läßt mich an den Tag denken, an dem meine Kindheit zu Ende ging. Damals wie heute hatte ich das Gefühl, daß der Regen in Schneeregen und später
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