Die Herrin der Kathedrale
Werk?« Schwitzend und heftig atmend fügte er nach einer Weile hinzu, was er kaum auszusprechen wagte: »Am Ende werde ich sogar mit dem Eintritt ins Himmelreich belohnt!« Hildeward schluckte und wandte sich, mit dieser verheißungsvollen Aussicht vor Augen, erneut zum Fenster. Sein Blick glitt von den Arbeiten an den Chorfundamenten weiter zu den Gräben, die den Verlauf der Nordwand der Kathedrale aufzeigten.
»Oh nein!«, entfuhr es ihm, während er sich aus dem Fenster lehnte, um noch besser zu sehen. »Dieses Weibsstück!« Hildewards plötzlicher Zorn richtete sich gegen Uta, die an einem Holzpflock, den der Werkmeister gerade in den Boden gerammt hatte, ein Seil festband. »Handwerker sollte sie anwerben und sich um deren Verpflegung kümmern! Nicht einmal das hat sie geschafft! Und jetzt beschmutzt sie auch noch die Baustelle mit ihren unzüchtigen Handlungen! Ein Weib soll Weib bleiben!« Hildeward schärfte seinen Blick. »Ihr Gewand ist schmutzig wie das Fell einer räudigen Hündin! Pfui, du blinde Sünderin!« Entsetzt von diesem unwürdigen Anblick, der seine zarte Hoffnung so urplötzlich zerstört hatte, warf Hildeward das Fenster zu und ging erneut vor dem Holzkreuz in die Knie. »Das wird Gott nicht dulden! Er wird mich dafür büßen lassen!« Dabei schaute er immer wieder nervös auf den Teppich an der gegenüberliegenden Wand. Den Oberkörper vor und zurück wiegend, bis ihn der grobe Stoff seines Gewandes auf der Haut kratzte, wiederholte er ein ums andere Mal: »Die Gemeinde ist der Leib Christi. Wer das für das Mahl nicht bedenkt, zieht Gottes Strafe auf sich. Deswegen sind so viele krank und schwach und sterben früh!« Er war davon überzeugt, dass die Sünder dort draußen die Ersten sein würden!
Gleich morgen würde er den jüngeren Burgherrn über das Treiben seiner Gattin in Kenntnis setzen. In einem Schreiben würde er Ekkehard von Naumburg an den ersehnten Erben erinnern, der ausbliebe, wenn sein Weib weiterhin die Aufgaben eines Mannes übernahm – eine Sünde, die unfruchtbar machte! Dass das Weib die Baustelle in Zukunft besser nicht mehr betreten sollte, würde der jüngere Burgherr bei seiner Rückkehr sicherlich einsehen.
Den Abend ihres ersten Tages auf der Baustelle ließ Uta in einem Zuber voll heißen Wassers ausklingen. Auf einem Holzbrett vor ihr, das quer über dem Zuber lag, war die Pergamentsammlung des Vitruv aufgeschlagen. Bereits bei den ersten Zeilen über die Zusammensetzung unterschiedlicher Kalksorten stand Katrina am Zuberrand und lauschte den Worten ihrer Herrin aufmerksam.
Noch immer trug sie dasselbe graue Leinenkleid wie bei ihrer Ankunft vor acht Mondumläufen. Das Angebot, von der Näherin der Burg ein neues geschneidert zu bekommen, hatte sie ausgeschlagen. »Was steht weiter auf dem Pergament geschrieben, Gräfin?«, fragte Katrina interessiert. Obwohl sie bereits mehrere Buchstaben kannte und einfache Texte langsam zu lesen vermochte, genoss sie es, wenn ihre Herrin ihr aus den für sie noch schwierigen Schriften vorlas.
»Bauholz muss gefällt werden ab Anfang des Herbstes bis zu der Zeit, in der der Westwind wieder zu wehen beginnt«, las Uta und bedeutete Katrina, mit ihren trockenen Händen die Seite umzuschlagen. »Denn im Frühling werden alle Bäume schwanger und geben ihre eigentümlichen guten Eigenschaften an das Laub und die jährlich wiederkehrenden Früchte ab« 21 , trug Uta die Worte des Römers vor.
Während Katrina weiter gebannt auf die geschriebenen Zeilen schaute, ließ Uta den Kopf erschöpft auf die Kante des Badetroges sinken. Im aufsteigenden Wasserdunst entspannte sie. Als sie eine ganze Weile auf diese Art stumm dagelegen hatte, kam ihr eine Idee. In ihrem Antwortschreiben würde sie Kaiserin Gisela darum bitten, ihnen weitere Wälder nahe der Burg zur Verfügung zu stellen, die sie noch diesen Herbst nutzen konnten. Denn das kleine Wäldchen im Südwesten der Burg lieferte nur ungenügend Holzvorrat. Und sobald die Handwerker eintrafen, würden sie noch viel mehr Holz für Gerüste, Schablonen und Transportwege benötigen. Uta analysierte: An den Unterkünften oder einer schlechten Behandlung, die sich schnell unter den Bauleuten herumsprach, lag es nicht, dass die Handwerker ausblieben. Davon hatte sie sich heute selbst überzeugen können. Nach den Vermessungsarbeiten mit Meister Tassilo hatte sie sich noch durch die Gesinde- und Handwerkerunterkünfte führen lassen, die gereichten Speisen sowie Wasser und Wein
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