Die Herrin der Kelten
vor den Römer zu stellen. Sie zeigte weder anklagend mit dem Finger auf Caradoc, noch gestikulierte sie oder hob auch nur die Stimme, doch Breaca hatte sie noch nie zuvor so deutlich ihre Autorität als Träumerin hervorkehren sehen. »Du weißt, dass das nicht die Art der Götter ist. Dein Vater handelte bei dem, was er tat, gegen den Willen der Ältesten, und ich zweifle nicht daran, dass er dafür zur Rechenschaft gezogen wird, entweder noch in diesem Leben oder im nächsten. Aber was du hier tust, ist auch nicht besser. Du trittst diesem Mann nicht in einem fairen Zweikampf gegenüber, er ist ja noch nicht einmal bewaffnet. Er ist ebenso wenig für die Taten seiner Vorfahren verantwortlich wie du für die deiner Vorfahren, und schon gar nicht für die Taten von Männern, mit denen er vielleicht überhaupt nicht blutsverwandt ist. Wenn er ein Feind ist, dann ist er es für sich allein, und es steht uns nicht zu, ihn hier und jetzt dafür zu verurteilen. Wir werden den Fehler deines Vaters nicht noch verschlimmern. Stattdessen werden wir diesen Mann in unsere Siedlung mitnehmen, eine Sitzung des Ältestenrats einberufen und dann die Götter und die Großmütter über sein Schicksal entscheiden lassen.«
»Ihr wollt bei diesem Wetter eine Ratsversammlung einberufen?« Caradoc breitete die Arme aus und wies auf den Schnee und das Eis und die Folgen des Unwetters. »Können eure Träumer etwa durch die Luft fliegen wie die Hirsch-Menschen des Nordlandes und selbst noch in den tiefsten Schneeverwehungen zu ihren Ratssitzungen zusammenkommen?«
»Wohl kaum.« Macha lächelte schwach, und Caradoc wurde wieder einmal daran erinnert, dass er eine Träumerin vor sich hatte. Er schlug die Augen nieder. »Solange der Schnee uns behindert, können wir nichts unternehmen. Es war schon schwierig genug, überhaupt hierher zu kommen, und wir sind noch lange nicht wieder wohlbehalten zu Hause angekommen. Wenn wir ohne Verluste zurückkehren, werden wir achtzehn zusätzliche Mäuler stopfen und außerdem noch Schlafplätze für alle Neuankömmlinge finden müssen, und damit werden wir reichlich genug zu tun haben, bis der Schnee schmilzt und die Wege wieder passierbar sind. Wenn es dann irgendwann so weit ist, wird der Rat zusammenkommen. In der Zwischenzeit ist der Mann unser Gast, genauso wie du. Er wird uns nicht verlassen; er ist ein einsamer Mann in einem fremden Land, und wenn wir in diesem Land schon kaum noch Nahrung finden, dann wird er überhaupt nichts Essbares mehr finden.«
»Meinst du?« Caradoc kaute nachdenklich auf der Innenseite seiner Wange. Langsam drehte er die Klinge herum und gab sie Breaca zurück. »Und wenn er das hier nun nicht versteht und trotzdem zu fliehen versucht?«, fragte er ruhig. »Die Römer glauben doch, sie beherrschten alles. Würdet ihr ihn frei und ungehindert durch das Herzland der Eceni streifen lassen?«
»Nein.« Macha hielt inne und drehte sich um. Luain mac Calma war neben den Römer getreten und übersetzte Machas Unterhaltung mit Caradoc ins Lateinische. Sie sprach langsam, damit er den Sinn ihrer Worte exakt wiedergeben konnte.
»Ich halte diesen Mann für intelligent. Auf dieser Basis wird er am Leben bleiben dürfen. Wenn er aber dumm ist und zu fliehen versucht, dann kannst du ihn zur Strecke bringen, so wie du es mit einem Wolf tun würdest, der in die Fohlengehege eingefallen ist. Die Ältesten werden dich nicht davon abhalten.«
Der Römer stand hoch aufgerichtet auf dem Kiesstrand, ohne sich um die eisige Kälte zu kümmern. Er war einen Kopf kleiner als Luain mac Calma, aber er stand da wie ein Krieger und ließ nichts von dem Zorn erkennen, den Breaca vielleicht von ihm erwartet hätte. Er überlegte einen Moment, nachdem Macha geendet hatte, und antwortete dann kurz auf Lateinisch.
Plötzlich grinste mac Calma breit. Er neigte mit ausgesuchter Höflichkeit den Kopf und sagte: »Unser neuer Gast fühlt sich durch dein Angebot der Gastfreundschaft geehrt und nimmt es dankend an. Er versichert dir, dass er nicht in die Fohlengehege einbrechen wird.«
»Gut.«
Macha wandte sich vom Meer ab. Diejenigen, die dabei gestanden und das Geschehen verfolgt hatten, drehten sich mit ihr um und machten sich auf den langen Rückweg den Strand hinauf zu der Stelle, wo die Pferde warteten. Bán und Hail gingen voran, um die neuen Pferde zusammenzutreiben und von der heimischen Herde fernzuhalten, für den Fall, dass sie ansteckende Krankheiten hatten oder sich mit den anderen
Weitere Kostenlose Bücher