Die Herrin der Kelten
vielleicht lebt er ja noch«, sagte er, während er den Jungen bei den Fußgelenken packte und den Abhang hinaufzuhieven begann. »Schaffen wir ihn nach oben, wo es trocken ist.«
»Nein. Er ist ertrunken. Er braucht einen Heiler oder sonst irgendjemanden, der die Gebete für die Toten sprechen kann. Hol lieber den Nächsten aus dem Wasser, da unten, kannst du ihn sehen?« Der Sturm heulte um sie herum. Peitschender Schneeregen machte Breaca für einen Moment blind. Sie strich sich mit dem Handrücken die nassen, zerzausten Haare aus den Augen und zeigte auf das Wasser, dorthin, wo sie zuletzt eine Bewegung gesehen hatte. Eine magere Gestalt mit langem, dunklem, wie Seetang anmutendem Haar kämpfte verzweifelt darum, in der tosenden Brandung Halt unter den Füßen zu finden. »Da draußen ist einer, der nicht stehen kann. Geh und hilf ihm. Wenn er in die Wellen fällt, ist er verloren.«
Tagos rannte in die Richtung, in die sie zeigte. Airmid gesellte sich zu Breaca und packte den ertrunkenen Jungen bei den Knöcheln, und mit vereinten Kräften schleppten sie ihn auf das höher gelegene Gelände hinauf. Der grasbewachsene Torfboden bildete ein hartes, kaltes Bett, aber hier lag zumindest kein Schnee so wie weiter landeinwärts, und der Junge war außer Reichweite der See. Sie legten ihn flach auf den Rücken, und Breaca kniete sich neben ihn, presste ihr Ohr an seine Brust und hielt sich das andere Ohr mit der Hand zu, um zu verhindern, dass es sich mit Regen füllte. Als ihr Haar über seine Haut streifte, klang es wie das Rascheln von Mäusen in nassen Blättern, doch sie konnte keinen Herzschlag in seiner Brust hören.
»Er ist noch nicht lange hinüber. Wir müssen das Wasser aus seinen Lungen entleeren.« Airmid kniete auf seiner anderen Seite. Sie zog prüfend seine Lider hoch und fühlte an seinem Hals nach dem Puls. Etwas an seiner Reaktion gab ihr Anlass zur Hoffnung. »Wenn wir das Wasser aus ihm herausholen können, ist es vielleicht noch nicht zu spät.«
Gemeinsam hoben sie den reglosen Körper hoch und drehten ihn herum, und aus dem Mund und der Nase des Jungen ergoss sich ein schier endlos scheinender Strom von Seewasser. »Jetzt müssen wir ihn beatmen«, erklärte Airmid, »so wie du es damals mit Hail gemacht hast, als er geboren wurde. Weißt du noch?«
Breaca nickte. »Natürlich.« Das war etwas, was sie nicht so schnell vergessen würde.
Sie legten ihn wieder ins Gras zurück, mit dem Gesicht zum Himmel. Airmid hob sein Kinn an und streckte seinen Hals. »Beug seinen Kopf zurück, damit die Luft auf einer geraden Bahn in seine Lungen gelangen kann. Heb das Gewicht seiner Brust mit deinem Atem. So, siehst du...«
Es sah leicht aus, wenn Airmid es machte, aber das war immer so. In den drei Jahren seit dem Tod der Großmutter hatte sie all die Aufgaben der Heilerin übernommen, die früher Sache der alten Frau gewesen waren. Das Heilen fiel ihr ebenso leicht wie das Träumen, und sie demonstrierte ihr Können jetzt mit der Mühelosigkeit eines Menschen, der mit der Heilkunst vertraut ist. Breaca, die weder eine besondere Begabung für die Kunst des Heilens noch für das Träumen hatte, kniete sich hin und umschloss die blauen, salzverkrusteten Lippen des Jungen mit ihrem Mund, so wie Airmid es ihr gezeigt hatte. Er schmeckte nach Seetang und nach Fischhaut und, oberflächlich, ganz schwach nach Airmid. Sandkörner schoben sich zwischen ihre Zähne und kratzten an ihrem Zahnfleisch. Als sie ihn beatmete, entwich die Luft sofort wieder pfeifend aus seiner Nase und seinen Mundwinkeln, und seine Brust hob sich nicht. Sie lehnte sich auf die Fersen zurück, enttäuscht und frustriert.
»Versuch es noch einmal, und gib dir mehr Mühe«, sagte Airmid. »Kneif ihm die Nase zu. Du musst so kräftig Luft in seine Lungen blasen, als ob du Feuer in nasse Äste treiben wolltest, nicht nur so schwach, als wolltest du auf trockenem Zunder eine neue Flamme entfachen.«
»Dann mach du es doch.«
»Nein. Der hier ist für dich.«
»Wieso?«
Manchmal konnte Airmid einen genauso anblicken, wie die verstorbene Großmutter es getan hatte. »Weil er nicht mir zuliebe ins Leben zurückkehren wird«, erklärte sie. »Und er wird für nichts und niemanden mehr zurückkehren, wenn du noch länger wartest. Tu es einfach.«
Breaca beugte sich noch tiefer und blies kräftiger, und plötzlich begann sich die Brust des Jungen zu heben.
Airmid schaute eine Weile zu und widmete sich dann anderen Aufgaben. Sie
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