Die Hexen - Roman
Wort rief Nevere ihn zurück. »Halte vor diesem Zelt Wache! Niemand darf sich Ramon nähern, der nicht zu uns gehört. Und wehe dir, wenn du meinen Befehl nicht befolgst! Wenn wir Beliar zwingen wollen, dass er sich an die Regeln hält, müssen wir sie selbst beachten.«
Mit einem flauen Gefühl im Magen folgte Ravenna der Heilerin zu dem abgesteckten Kampfplatz. Sie schob das Päckchen mit dem magischen Heilstaub unter das Gewand. Wind war aufgekommen, die Blätter der Birken flirrten in der Sonne. Die Schimmel der jungen Ritter drängten sich vor Constantins Platz auf der Tribüne. Die Reiter lauschten, als Nevere dem König über den Zustand des Verletzten Bericht erstattete. Unterdessen ritt Beliar dicht an der Bande entlang und sprach eindringlich auf die Menschen ein. Mit Schrecken stellte Ravenna fest, dass er immer mehr Zuhörer fand. Nicht wenige Leute klatschten, sobald er den Rappen weitertrieb. Könnte ich ihm nur wenigstens einmal von nahem ins Gesicht sehen, wünschte sie. Ich würde ihn anspucken und verfluchen.
In einem Wasserkübel, der am Rande des großen Platzes stand, wusch sie sich die Hände. Das Kleid war ruiniert, Ramons Blut ließ sich nicht auswaschen, so sehr sie den Stoff auch knetete und rieb. Der nasse Rock klebte ihr an den Beinen, als sie auf die Tribüne zurückkehrte, gerade noch rechtzeitig, um Constantins Beschluss zu hören.
»Das Turnier wird fortgesetzt!«, rief der König. Auf dem großen Platz breitete sich Stille aus, auch Beliar brachte seinen Rappen zum Stehen. Auf seinem Helmbusch loderte die knisternde Flamme.
»Allerdings wird es eine Änderung geben«, fuhr Constantin fort. »Die Reiter aus meiner Burg haben mir soeben ihren Verzicht auf die weitere Teilnahme erklärt. Mit einer Ausnahme treten sie geschlossen vom Turnier zurück. Es verbleiben auf dem Platz: der Baron de Munchstein, der Marquis de Hœnkungsberg und Lucian von Landsberg.«
Fast wäre Ravenna auf den Stufen ausgerutscht. Nein!, dachte sie und ihr Herz pochte dumpf. Warum tut er das? Das darf er nicht! Mit dem nächsten Atemzug wurde ihr klar, was Lucian und seine Freunde zu dieser Entscheidung bewog.
Es war allein ihre Schuld.
Sie hatte ihm ihre Halskette als Pfand gegeben, während sie den Gürtel der Maikönigin trug, und alle auf dem Platz hatten es gesehen. Er kämpfte für sie, die als Melisendes Nachfolgerin ausersehen war. Aber genau das wollte ich doch verhindern, schoss es ihr durch den Kopf, während sie versuchte, sich zu Constantins Sitzplatz vorzudrängen. Überall standen Städter und Kaufleute in pelzverbrämten Mänteln, Bauernleute in groben Holzschuhen, von der Arbeit gebeugte Knechte und Dienstmägde, die die Kinder ihrer Herrschaften an der Hand hielten. Alle reckten die Hälse, als Beliar und der Baron zur Bande ritten.
Warum lässt dieser Narr es denn nicht sein?, dachte Ravenna verzweifelt. Gegen den Marquis hat der Baron doch keine Chance! Er hatte sogar Mühe, sein ängstliches Pferd zu bändigen. Der Wallach witterte die Flammen auf Beliars Helm und scheute immer wieder vor der Bande zurück, bis der Baron seinem Knappen befahl, das Pferd zu führen. Geduldig wartete Lucian am Rand auf den Sieger des nächsten Durchgangs.
Ein vielstimmiger Aufschrei ertönte. Der Baron hatte das Visier noch nicht geschlossen, als Beliar auf ihn losstürmte. Hektisch versuchte der Mann, Ordnung in die Zügel zu bringen, aber sein Pferd wollte nicht einmal traben, als Beliar schon die Lanze anlegte. Scharfe Grate blinkten an der Spitze aus Eisen. Der Marquis hatte die Waffen unbemerkt ausgetauscht. Diese Lanze war nicht für ein Turnier gedacht, sondern für den Kampf.
Er wird ihn umbringen!, durchzuckte es Ravenna.
Plötzlich ging ein Aufschrei durch die Menge. Wie ein weißer Blitz schoss Ghost am Wallach des Barons vorbei. Ravenna stockte der Atem, als der Schimmel mit vorgestrecktem Hals an der Bande entlangstürmte.
»Pass auf!«, schrie sie, denn sie sah, wie die Spitze von Beliars Lanze zuckte. Doch Lucian war auf die Finte des Gegners gefasst. In letzter Sekunde duckte er sich tief in die flatternde Mähne, glitt aus dem Sattel und hing wie eine Klette an der linken Seite des Hengsts. Beliars Lanze zischte über ihn hinweg, während sein Speer sicher auf der Sattelfläche auflag. Mit einem dumpfen Geräusch prallte er auf den Schild des Gegners.
Der Marquis schwankte, aber er blieb im Sattel. Sein Helmbusch zog eine Rauchschwade hinter sich her. Mit harter Hand riss er sein
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