Die Hexen - Roman
Übernächtigt, zu Fuß und in weite, graue Umhänge gehüllt, gingen ihre Begleiter vielleicht als verspätete Turniergäste durch, die der Regen in die Stadt trieb.
Lautstark verhandelte Vernon mit der Torwache. Er spielte den Betrunkenen so überzeugend , als habe er jede Menge Übung. Unterdessen schmiegten Ravenna und Lucian sich an die Stadtmauer. Sie beide hatten während des Turniers zu viel Aufmerksamkeit erregt, um ihre Gesichter sorglos in den Schein der Öllaterne zu halten.
Sie hätte besser auch ein gepolstertes Untergewand anziehen sollen, wie es Lucian und seine Freunde trugen, überlegte Ravenna. Der dünne Leinenkittel, den sie unter dem Ringpanzer trug, warf Falten, und das Kettenhemd scheuerte ihr die Haut an Schultern und Hüfte wund. Außerdem presste das Gewicht des Panzers ihre Brüste unangenehm an den Körper. Trotzdem war sie froh um die Panzerung, denn die Stadt machte einen feindseligen Eindruck. Das Wasser in den Gräben stank nach fauligem Schlamm. Über ihren Köpfen verlief ein Wehrgang, in den im Abstand von jeweils zehn Schritten Gussöffnungen eingelassen waren. Durch diese Schächte konnten bei Bedarf Steine geworfen werden oder es wurden Pech und kochendes Öl auf die Angreifer gegossen – wehe dem Unglücklichen, der sich dann am Fuß der Mauer befand!
Lucian hatte sich die Kapuze tief in die Stirn gezogen. Unter dem Mantel verborgen lag seine Hand auf dem Schwertgriff. Ich habe den richtigen Ritter gewählt, dachte Ravenna, als sie seinen entschlossenen Gesichtsausdruck sah. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an ihr Versprechen, sich einen weiteren Kuss von ihm zu holen, aber da stieß Vernon einen leisen Pfiff aus und winkte sie herbei.
Lautlos stahl sich die Gruppe durch das Tor. Der Wächter lehnte unter der Laterne an der Wand. Er hatte einen Arm um die Hellebarde geschlungen und zählte die Münzen in einem Ledersack. Als Ravenna an ihm vorbeischlüpfen wollte, ließ er den Spieß plötzlich nach vorne fallen.
»He, du da musst auch bezahlen!«
Vor Schreck biss sich Ravenna auf die Zunge, als die Spitze der Hellebarde plötzlich vor ihrem Gesicht tanzte. Sie sagte kein Wort, denn ihre hohe Stimme hätte sie sofort verraten.
»Elf Mann – wir haben für elf Mann bezahlt!«, fauchte Vernon. »Kannst du Dummkopf etwa nicht zählen?«
»Ist das überhaupt ein Mann?«, zeterte der Wächter. Mit der Spitze der Hellebarde schob er Ravennas Umhang auseinander. »Er kommt mir eher wie ein Junge vor. Oder wie ein Mädchen.«
Krampfhaft verbarg Ravenna das Hexenmesser im Rücken – bereit, zuzustoßen, falls der Wächter noch zudringlicher werden sollte. Mit einem Schritt trat Lucian neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. »Das ist mein kleiner Bruder. Nun hab dich doch nicht so … schließlich will er das Spektakel auch sehen.«
Der Torwächter zwinkerte. »So einen Bruder hätte ich auch gerne. Der Bursche bleibt hier. Ihr andern könnt weitergehen. Wenn ihr euch beeilt, könnt ihr noch zusehen, wie sie die Hexe aus dem Turm holen.«
»Wo soll die Hinrichtung denn stattfinden?«, wollte Lucian wissen, während er einen Beutel vom Gürtel löste. Ravenna hielt den Atem an. Sie wunderte sich, wie er so gelassen bleiben konnte. Scheinbar zerrte das Versteckspiel unter dem Tor nicht im Geringsten an seinen Nerven. An ihn gelehnt, spürte sie, wie sie selbst zitterte. Der Torwächter gab den Rittern die gewünschte Auskunft und versuchte gleichzeitig, einen Blick auf ihr Gesicht zu werfen. Mit zwei Fingern zog sie die Kapuze noch tiefer in die Stirn.
Lucian kramte in dem Beutel herum. Dann überlegte er es sich anders, schnürte das Säckchen zu und ließ es in die ausgestreckte Hand des Torwächters fallen. »Da, nimm, guter Mann«, seufzte er. »Und sei damit zufrieden. So eine Hexenverbrennung ist offenbar recht einträglich für dich.«
Der Torwächter deutete eine Verbeugung an und gab ihnen den Weg frei. Lucian behielt Ravenna dicht neben sich, während sie die schlafende Stadt betraten. Die Laternen an den Hausecken warfen ein fahles Licht auf die Straßen und Zinnengärten. Auf einem Absatz gleich hinter der Mauer rankten sich Bohnen und Gurken um lange Stangen. Zwischen Beeten mit Schwarzwurzel, Petersilie und Löwenzahn verlief ein Trampelpfad, vermutlich für die Stadtwache.
»Das war mein letztes Geld«, seufzte Lucian. »Nun muss ich wieder ganz von vorne anfangen und Constantin ein ganzes Jahr lang als Turmwache und Stallknecht dienen, ehe
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