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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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ich an neues Sattelzeug denken kann.«
    »Tut mir leid«, murmelte Ravenna, aber gleichzeitig spürte sie, wie er sie noch enger an sich zog.
    »Falls wir kämpfen müssen«, sagte er und sie öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen. An einen Kampf in den engen Gassen gegen eine Überzahl von Soldaten aus der Stadt mochte sie noch nicht einmal denken. In dem Armenviertel, das sie jetzt durchquerten, stank es nach Unrat. Hinter einer hohen Mauer bellte ein Hund.
    »Falls wir kämpfen, verlange ich, dass Ihr im Hintergrund bleibt«, beharrte Lucian. »Haltet Euch dicht hinter uns und kommt den Schwertern nicht zu nahe. In der Hitze des Gefechts geschieht es manchmal, dass man auf einen Schatten losgeht, den man nur aus dem Augenwinkel sieht.«
    Ravenna nickte. Sie hatten jetzt die Innenstadt erreicht, wo die Häuser der reichen Städter standen. Im Morgennebel tauchte die Kathedrale vor ihnen auf, ein Gebirge aus rotem Sandstein. Ein einsames Kerzenlicht schimmerte unterhalb der Turmspitze. Dort saß der Wächter in seiner kleinen, zugigen Kammer, achtete auf Brände und hielt nach Feinden Ausschau. Fackeln erleuchteten den Platz vor dem Portal und strahlten die Nebelschwaden von unten rötlich an.
    Als Ravenna die Menschenmassen sah, die sich auf dem Platz drängten, stockte ihr der Herzschlag. Endlich begriff sie, warum sie nirgendwo ein Licht gesehen hatte und warum niemand auf das wütende Bellen reagierte: Die ganze Stadt war auf den Beinen. Aber die Leute verhielten sich merkwürdig. Regungslos und ohne einen Laut von sich zu geben, standen sie auf dem Platz, eine Menschenmasse, aus der nur Schultern, dunkle Hüte und Hauben ragten. In zwei Reihen hatten Soldaten Aufstellung genommen und hielten eine Gasse frei, die bis zur Kathedrale führte.
    »Lucian! Vernon!« Ihr eigenes Flüstern kam Ravenna lauter vor als Glockenschläge. »Nehmt euch in Acht! Irgendetwas geht hier vor. Etwas stimmt nicht.« Sie wusste selbst nicht, weshalb sie das sagte, doch es war mehr als eine Ahnung. Eine Drohung lag in der Luft, eine vergiftete Atmosphäre. Die jungen Ritter nickten ihr zu. Bleich umfassten sie die Griffe ihrer Schwerter.
    »Wir teilen uns auf!«, befahl Lucian leise. »Wir nähern uns der Kathedrale von drei Seiten. Wenn wir fliehen müssen, dann in Richtung Kanal. Dort gibt es Kähne, Schleusen und einen Durchlass in der Mauer, durch den die Ill fließt. Im Ernstfall ist die Wasserstraße unser einziger Ausweg.«
    Ravenna blieb dicht hinter ihm, als er sich einen Weg durch die Menge bahnte. Die Leute murrten, als er sie zur Seite drängte, und machten nur unwillig Platz. Vielleicht hielten sie den jungen Mann in Kettenhemd, Stiefeln und langem Mantel für einen Angehörigen der Stadtwache.
    Am größten war der Andrang vor dem nördlichen Portal. Dort sollte die Hinrichtung stattfinden, doch als Ravennas Blick auf die freie Fläche fiel, die von Soldaten bewacht wurde, blieb sie verwundert stehen. An dieser Stelle war nichts Auffälliges zu sehen und schon gar nicht das, was sie erwartet hatte – weder Holzstöße noch mit Ketten behangene Pfähle.
    »Bei Morrigans Namen, Ihr hattet Recht!«, flüsterte Lucian jedoch. »Man will Melisende wirklich verbrennen. Seht Ihr diese Eisenringe, die ins Pflaster eingelassen sind?«
    Ravenna folgte Lucians ausgestrecktem Arm mit den Blicken und entdeckte mehrere Kreise, die aus ineinanderliegenden Metallringen gebildet wurden. Sie hatten den Durchmesser von Brunnenschächten. Jeder Ring war mit seltsamen Zeichen bedeckt. Mit magischen Runen, wie Ravenna auf den zweiten Blick begriff.
    »Das ist die Stätte«, raunte Lucian. »Hier soll Melisende sterben.« Dann hob er den Kopf. »Achtung, es geht los!«
    Ein einachsiger Karren rollte durch die Menge, die sich lautlos teilte, um das Gefährt durchzulassen. Unter dem mit Fransen geschmückten Baldachin stand eine Frau mit schlohweißem, schulterlangem Haar. Ravenna atmete auf, als sie erkannte, dass die Henkersknechte ihre ferne Verwandte wenigstens nicht in Sack und Asche über den Platz zerrten. Im Gegenteil – Melisende war wie eine echte Magierin gekleidet. Den rosenfarbenen Schleier hatte sie lose über Kopf und Schultern gebreitet. In der linken Hand hielt sie einen Fächer und fächelte sich damit Luft zu. Mit gelassener Miene betrachtete sie die Zuschauer, die zu ihrer Hinrichtung gekommen waren.
    Ravenna konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Melisende sah wie eine adelige Witwe aus, wie eine stolze Königin, die

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