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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Ihre Gabe ruhte eingeschlossen in ihrer Brust und ihre Kraft entfaltete sich nicht.
    Nach wenigen Schritten holte Lucian sie ein. Er fluchte leise. »Bleibt in meiner Nähe! Ihr scheint unsere Gegner noch immer zu unterschätzen.«
    »Ich muss dorthin!«, zischte Ravenna. »Bring mich so dicht wie möglich an die beiden heran! Merkst du denn nicht, was hier passiert? Beliar hat die Stadt längst eingenommen – dieser Hexer blendet die Leute mit seiner finsteren Magie. Und er unterdrückt meine Gabe und die von Melisende vermutlich auch. Ach, und jetzt versammelt sich der Hohe Rat vor der Kathedrale! Jemand muss die Menschen doch wachrütteln!«
    Der Griff um ihren Arm lockerte sich nicht. Nervös beobachtete Lucian die Vorgänge auf der Fläche vor dem Kirchenportal. »Ihr werdet es nicht sein, die dem Stadtrat die Augen öffnet. Ich bin nämlich für Eure Sicherheit verantwortlich, und solange ich atme, lasse ich Euch nicht einmal in die Nähe des Marquis.« Plötzlich reckte der junge Ritter den Hals. »Was ist das? Wer spricht da? Diese Stimme kenne ich nicht.«
    »Das ist der Hexenbanner, den die Stadt auf Anraten des Marquis einbestellt hat«, erklärte ein Mann, der vor ihnen stand. Er trug einen schweren, von Motten zerfressenen Pelzumhang. Während er sprach, sah er Ravenna scharf an. »Er reiste sofort aus Paris an, als er hörte, dass Zauberinnen hier ihr Unwesen treiben.«
    Ravenna stellte sich auf die Zehenspitzen. Der Hexenbanner war ein Mann mit grauem Haar und grauem Bart. Mit müder, mitleidloser Stimme verlas er die Anklage gegen Melisende und den Jungen. Es war eine Ansammlung haarsträubender Behauptungen, die darin gipfelten, dass Melisende in einem geschlossenen Raum im Hexenturm einen Regen aus Fledermäusen erzeugt hatte. Jedes Kind, das beobachtet hatte, wie ein Apfel vom Baum auf die Erde fiel und wie Wasser beim Kochen verdampfte, würde über diese Anschuldigungen den Kopf schütteln.
    »Gesteht Ihr nun öffentlich ein, dass Ihr eine Hexe seid?«, fragte der grauhaarige Mann Melisende.
    »Du törichter Tropf!«, lachte sie und schüttelte das Haar. »Du bist doch nichts weiter als ein armer, verirrter Zauberlehrling. Wie wirst du bloß den Dämon, der dir im Nacken hockt, wieder los? Soll ich dir vielleicht helfen?« Dann hob sie beide Arme und begann mit voller und tiefer Stimme zu singen.
    Noch nie hatte ein Lied Ravenna so berührt, und sie konnte sehen, dass es den anderen Anwesenden ähnlich erging. Der kalte Wind, der Regen und der schreckliche Anlass dieser Versammlung waren vergessen. Der Platz war erfüllt von Melisendes Gesang und der Himmel über den Dächern schimmerte wie Rosenquarz. Sogar der Hexenbanner schien regelrecht aufzublühen. Mit jeder Strophe wurde er jünger und lebendiger, er hing an Melisendes Lippen. Verblüfft beobachtete Ravenna, wie der Marquis hingegen schrumpfte. Beliar duckte sich und sah einen Augenblick lang aus wie eine zerzauste Krähe. Dann schlug er der Zauberin mit der gepanzerten Faust auf den Mund.
    Melisende taumelte und verstummte. Blut glänzte auf ihren Lippen. Beliar packte sie am Handgelenk und stieß sie in die Mitte eines jener Eisenringe, die im Boden vor der Kathedrale eingelassen waren.
    Sofort erlosch jeglicher Zauber, und der Morgen wurde wieder dunkel, kalt und still. Melisende war erstarrt. Nur ihre Augen lebten und ihr Haar leuchtete wie eine weiße Lohe. Plötzlich wirkte sie wie eine Statue, ein Relikt aus grauer Vorzeit, eingeschlossen in einem Kristall. Einige Frauen weinten, doch sie verstummten, als Beliar sich an die Menge wandte .
    »Basiliskenschleier und magische Banngesänge! Ich glaube, wir haben genug gesehen!«, rief er.
    »Melisende vom Odilienberg ist zweifelsfrei eine Anhängerin schwarzer Magie. Sie wurde im Hexenkonvent erzogen und ausgebildet, wo noch immer die Töchter vieler Könige, Stammesfürsten und Schamanen unterrichtet werden. Heute in aller Frühe bat mich der Hohe Rat, eine Untersuchung gegen diese Schule einzuleiten. Dies soll umgehend geschehen! Hiermit stellt der Rat die Sieben unter Acht und Bann. Sie dürfen den Konvent nicht verlassen und keinerlei Magie mehr wirken, bis die Untersuchung abgeschlossen ist.«
    »Wir müssen hier weg«, raunte Lucian Ravenna ins Ohr.
    »Ich fürchte, der Kaufmann, mit dem wir gerade sprachen, hat Euch erkannt. Zumindest scheint er etwas zu ahnen, denn er spricht soeben mit einem Soldaten.«
    Der junge Ritter deutete zum Kirchenportal. Dort stand der Kerl in dem

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