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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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bewegte vorsichtig die Schultern. »Bleibt hier«, befahl er. »Ihr dürft das Haus nicht ohne mein Einverständnis verlassen. In der Zwischenzeit will ich sehen, ob ich etwas finde, mit dem ich das Kettenhemd notdürftig zusammenflicken kann. Ich bin zwar kein Plattner, doch mit etwas Draht weiß ich mir zu helfen.«
    Yvonne starrte auf die Tür, nachdem sie sich hinter dem Ritter geschlossen hatte. Ihr dürft das Haus nicht verlassen. Was bildet sich dieser Kerl eigentlich ein?, dachte sie wütend. Will er mich in meinem eigenen Elternhaus wie eine Geisel behandeln – nach allem, was ich für ihn getan habe? Eines muss man Beliar und seinen Anhängern lassen, dachte sie, während sie in Mémés Zimmer zurückkehrte. Jeder von ihnen begegnete mir mit Respekt. Die Hexer auf dem Boot hatten sie nicht unterschätzt, während Lucian in ihr nur Ravennas kleine Schwester zu sehen schien.
    Sie nahm das Medaillon ihrer Großmutter aus dem Kästchen auf der Kommode, klappte das Schmuckstück auf und legte es auf den Schreibtisch. Einige Atemzüge lang starrte sie auf den Anhänger, um sich für die Magie zu sammeln, die sie wirken wollte. Dann verriegelte sie die Tür, schloss die Vorhänge und zündete die Kerzen auf dem Fensterbrett und vor dem Spiegel an.
    Sorgfältig traf sie alle Vorbereitungen, die für den Zauber notwendig waren. Sie ölte den Tisch mit Rosenduft ein, ehe sie ihre Tarotkarten ausbreitete. Mit einem Wachsstift schrieb sie magische Formeln auf die Fläche, so dass um die Karten ein Bannkreis entstand. Dann streckte sie die Hände aus und hielt sie über das Tarotdeck. Mit geschlossenen Augen versenkte sie sich in die Meditation, bis sie hinter den Lidern ein grelles Flimmern wahrnahm. Wie von selbst wurde ihre Hand zu einer der Karten gezogen. Ihre Fingerspitzen kribbelten, als sie das Blatt aufnahm. Dann lächelte sie.
    Auf Anhieb hatte sie die Karte der Liebenden gezogen. Das war mehr als ein gutes Zeichen – es war ein Omen. Sie würde Lucian einen Denkzettel verpassen, den er so schnell nicht wieder vergessen würde. Sie würde ihn lehren, die Macht der Hexen aus der Gegenwart nicht länger zu unterschätzen.
    Sie faltete die Karte mehrmals, bis sie in das Medaillon passte. Dann zog sie die Haarlocke des Ritters aus der Hosentasche und rollte sie sorgfältig in den Anhänger. Zuletzt streute sie Blütenpollen über das Haar und ließ Kerzenwachs in dicken Tropfen in das Medaillon fallen.
    »Mein Wunsch und dein Wunsch werden eins«, flüsterte sie, während das Wachs die Magie besiegelte. »Mein Gedanke wird dein Gedanke, meine Wahrheit ist deine Wahrheit, und wenn ich rufe, dann fliegt deine Liebe zu mir.«
    Sie hielt das Medaillon, bis sie von neuem spürte, wie der dunkle, magische Fluss durch ihren Körper und ihre Hände in den Anhänger drang. Wieder blitzten Ahnungen zukünftiger Ereignisse vor ihrem inneren Auge auf, Hinweise, die in eine weit entfernte Zeit reichten. Yvonnes Herz klopfte, als sie die Arme hob und den Verschluss der Kette im Nacken einhakte. Das Wachs in dem Medaillon war noch warm, als sie es an sich presste und darauf wartete, dass die magische Aufwallung verebbte.
    Sie fand Lucian im Stall, wo er den Kühen Heu vorlegte und die Reste zusammenfegte, als habe er sein ganzes Leben lang nichts anderes gemacht. Constantins Ritter war offensichtlich ebenso Constantins Stallbursche.
    Als er sie bemerkte, ließ er die Heugabel sinken. »Yvonne! Kommt her und seht Euch das an!«
    »Was ist denn?«, murrte sie, während sie mit einem großen Schritt über die Abflussrinne stieg. »So begeistert von der Stallarbeit? Wenn du nicht Acht gibst, wird dich mein Vater hierbehalten. Zwei geschickte Hände sind genau das, was dem Hof fehlt, sagt er immer.«
    »Euer Vater ist ganz offensichtlich ein besserer Schmied als ich«, meinte Lucian. »Er bot an, meine Rüstung zu richten, wenn ich ihm dafür bei der Landarbeit zur Hand gehe. Und nun schaut, was ich in Eurem Kuhstall gefunden habe.«
    Als er das Stroh zur Seite fegte, scharrten die Zinken der Heugabel über Stein. Hastig trat Yvonne näher. Lucian stand vor einem flachen Felsen, der fast vollständig im Boden versunken war. Eingeritzte Schnecken und Mondhörner bedeckten die Oberfläche, doch die Muster erkannte man erst auf den zweiten Blick. Für einen flüchtigen Betrachter wirkte der Stein nur schmutzig und verkratzt.
    »Das ist der Maistein«, erklärte Lucian kopfschüttelnd. »Vor über siebenhundert Jahren standen Eure

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