Die Hexen - Roman
wir Ravenna befreien können.«
Der Baum der Nacht
Der Schein von hundert weißen Kerzen leuchtete auf den Betonwänden und dem Linoleumboden der Zelle. Mit einem Gefühl tiefen Unbehagens saß Ravenna auf der Pritsche, während sie beobachtete, wie Beliar den Lichterkreis abschritt und scheinbar belanglose Kleinigkeiten veränderte. Mal verschob er eines der Wachslichter oder setzte es auf einen Sims, dann maß er den Durchmesser des Kreises mit langen Schritten. Alles in ihrer Umgebung war weiß: der Boden, die Wände, die Decke, die Kerzen und auch die massive Stahltür, die weder Schloss noch Klinke besaß. Jede Form von Magie war an diese Tür verschwendet. Offenbar hatte Beliar den Eingang gegen Zauberei gesichert, das hatte Ravenna in den vergangenen Tagen oft genug ausprobiert.
Die Helligkeit verwirrte sie. Die meiste Zeit über war die Zelle abgedunkelt gewesen, und Ravenna war zu der Überzeugung gelangt, dass ihr Verlies finster war wie ein mittelalterlicher Kerker. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit sie in diesem Raum verbracht hatte. Seit ihrer Festnahme schienen Monate vergangen zu sein. Die Zelle war kreisrund wie ein Zimmer in einem Turm. Manchmal wurde ihr schwindlig, weil es keine geraden Linien gab, an denen sich das Auge entlangtasten konnte. Es gab auch kein Fenster, nur einen Sichtschlitz in der Tür, doch niemand beachtete sie, wenn sie schrie und gegen die Tür hämmerte, bis ihre Fäuste schmerzten. Irgendwann hatte man sie von der Pritsche losgebunden, ihr ein Tablett mit Essen hingestellt und erlaubt, dass sie die Toilette benutzte. Das Nachthemd war gegen einen verwaschenen Jogginganzug ausgetauscht worden, der an ihrem Körper schlabberte.
»Du musstest dich eine ganze Weile gedulden«, sagte Beliar nun, an sie gewandt. »Mehrere Wochen, um genau zu sein. Wir wollten den passenden Neumond abwarten. Diese Nacht ist wie geschaffen für eine Reise durch die Zeit.«
Er deutete zur Decke, wo nichts zu sehen war als weiß gestrichener Beton und eine flackernde Neonröhre. Ravenna sog die Unterlippe zwischen die Zähne. Sie hatte Wochen hier verbracht! Wenn es stimmte, was Beliar sagte, hatte sie viel zu viel Zeit verloren. Bei ihrer letzten Begegnung hatte Viviale ihr eingeschärft, sich zu beeilen, denn die Mittsommernacht rückte immer näher.
Die magischen Träume hatten sich nicht wiederholt. Mit dem Stil eines Löffels hatte Ravenna das Symbol, das Viviales Siegel zierte, in die Wand unter der Liege geritzt, so gut sie es aus der Erinnerung vermochte. Immer wieder hatte sie sich vor den magischen Knotenkreis gekauert und versucht, sich jede Schlinge und jede Schlaufe einzuprägen. Sie wollte das Zeichen wiedererkennen, denn wie Viviale gesagt hatte: Der Ring von Mabon war das Einzige, was sie aus dieser schlimmen Lage befreien konnte. Das Siegel des Todes.
Sie schluckte und versuchte, sich wieder auf Beliars Vorbereitungen zu konzentrieren. In den vergangenen Tagen hatte sie nicht viel von ihm gesehen. Wenn er die Zelle betrat, dann kam er in Gestalt ihres Arztes und spielte ihrem von Beruhigungsmitteln betäubten Verstand den fürsorglichen Therapeuten vor. Die Erinnerung daran schmerzte sie am meisten, denn es gab eine Zeit, da hatte sie Beliar – in Gestalt des Corvin Corbeau – vertraut und ihm von ihren Sorgen und Nöten erzählt.
Sie sprang von der Liege herunter. Beliar hob den Kopf.
»Ich habe nur eine Frage: Warum?«, sagte sie und ging langsam auf ihn zu. Der Jogginganzug war ihr viel zu groß und sie kam sich lächerlich vor. Beliar sah wie immer blendend aus. Seine Robe war weiß. Er hatte sie gegen den Hausmantel getauscht, in dem er sie zum letzten Mal empfangen hatte. Ravenna schwante nichts Gutes, denn mit der Kapuze und den weiten Ärmeln erinnerte der Umhang an das Gewand eines Druiden. An den Ärmeln gab es Stickereien, die wie magische Zeichen aussahen, ebenso auf der Schärpe, die das Gewand in der Körpermitte raffte.
Beliar lächelte. Ganz in Weiß und mit einer brennenden Kerze in der Hand wirkte er unschuldig und engelhaft. Doch Ravenna wusste, wie gefährlich der Marquis war. Wenn das Licht von der Seite auf seine Gesichtsz üge fiel, schien die Haut grau und fahl, und der Ausdruck um den Mund wechselte in Sekundenschnelle zwischen Hochmut, Selbstmitleid und Verdruss. Während ihrer Ausbildung hatte sie lange genug die verschiedenen menschlichen Gesichtsausdrücke studiert. Sie hatte gelernt, einen bestimmten Gefühlsausdruck in Stein zu meißeln
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