Die Hexen - Roman
Mal.
Sobald der letzte Mann in den Raum getreten war, zog der Marquis die Tür zu. Ängstlich behielt Ravenna die Gruppe im Auge, die sie nun von allen Seiten umringte. Sie fürchtete, einer von Beliars Jüngern könnte die magische Knotenschrift entdecken, die sie unter der Pritsche in die Wand geritzt hatte, doch da machte Beliar eine Geste mit dem Arm. Die Neonröhre an der Decke erlosch.
Kerzenschein erhellte die Zelle. Die Luft war heiß und roch nach geschmolzenem Wachs. Ravenna gehorchte, als Beliar ihr befahl, sich auf dem Schaffell auszustrecken. Ihr Blick heftete sich auf ein Säckchen aus Samt, das der Marquis aus den Tiefen seines Gewands holte. Als er es umstülpte, glitt eine Kette mit einem silbernen Anhänger heraus. Ravenna konnte erkennen, dass der Anhänger wie eine Faust geformt war, deren Zeigefinger nach unten deutete. Mit einem Gefühl der Beklemmung starrte sie auf die Kette. Es war ein magischer Gegenstand, und sie ahnte, dass Beliar damit nichts Gutes bezweckte. Ihre Gedanken rasten. Sie musste sich zur Wehr setzen, irgendwie einen Ausweg finden … doch wie? Was konnte sie tun außer dazuliegen und abzuwarten, dass sich ihr Schicksal erfüllte?
Sie blinzelte nervös, als Beliar die Kette mit dem Anhänger über ihr Gesicht hob und hin und her schwingen ließ. Plötzlich klang seine Stimme wieder so einfühlsam und sanft wie die Stimme ihres Therapeuten. »Wehr dich nicht, Ravenna!«, ermahnte er sie. »Lass es einfach geschehen und denk immer daran, dass dir nichts geschehen wird. Atme tief und ruhig … immer ruhiger … auch dein Herzschlag verlangsamt sich …«
Ravenna starrte auf die Hand, die über ihrer Stirn zu kreisen begann. Die Anwesenden summten einen tiefen Ton, der sie wie unter einer Glasglocke einschloss. Wieder hatte sie das Gefühl, dass die Luft dünner wurde. Und sie hatte Angst, denn das Pendel war etwas Böses, das ihr den Willen aussog.
»Was siehst du?«
Diese Frage überraschte sie, denn sie war davon ausgegangen, dass Beliar den Weg bestimmte und sie führte. Dann erinnerte sie sich wieder: Ein Dämon besaß keine eigene Macht.
»Was siehst du?«, wiederholte Beliar in schärferem Ton.
»Nichts«, sagte sie wahrheitsgemäß.
Der Marquis zischte ungeduldig. Der dumpfe Gesang der Runde schwoll bedrohlich an. »Gib dir mehr Mühe! Zeig mir das Tor.«
Was denn für ein Tor?, fragte Ravenna sich. Dann zwang sie sich hastig, an etwas vollkommen anderes zu denken, damit das Tor zur Hexenwelt nicht in ihrer Vorstellung aufstieg. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn Beliar sie nicht lenken konnte, wie es ihm passte, dann war das hier ihre einzige Chance. Sie durfte nicht zulassen, dass er sie hypnotisierte. Sie musste ihm entwischen, indem sie ein anderes Tor aufstieß, ein Tor zu einem Ort, an dem der Schatz verborgen lag, nach dem sie und Lucian die ganze Zeit gesucht hatten.
»Da ist nichts«, wiederholte sie. Und dachte an das Siegel des Sommers.
Sie erschrak, als Beliar ihr zwei Finger gegen die Stirn stieß, als wolle er in ihren Kopf dringen. Das dritte Auge öffnete sich ohne jede Vorwarnung und ein heller Punkt tat sich vor ihr auf. So hat es immer begonnen, dachte sie erschrocken. Das ist das Tor!
Ohne großes Nachdenken formte sie die Hände zu einer Schale. Die Ränder des Tors begannen zu funkeln, als ihre Finger sich der Stelle näherten, und sie merkte, wie sie das Tor formen konnte. Sie weitete es ein winziges Stück, so dass ein Bogen entstand, der Platz für eine Person bot. Ravenna streckte die Hand hindurch, während sie die ganze Zeit an nichts anderes als an Melisendes Siegel dachte. Plötzlich merkte sie, wie der magische Sog sie erfasste, wie sie emporgehoben und durch das Tor getragen wurde.
Sie wirbelte herum. Schließe!, rief sie dem Tor in Gedanken zu und presste ihre Handflächen gegeneinander. Schließe! Sie wollte auf keinen Fall zulassen, dass ihr auch nur ein Einziger von Beliars Jüngern folgte.
Der Aufschrei des Dämons gellte in ihren Gedanken. Sie entdeckte eines von Beliars rotglühenden Augen, das durch den Spalt spähte. Doch das Tor schloss sich. Schlagartig wurde es dunkel um sie und sie fühlte, wie sie ins Nichts stürzte. Das Schwindelgefühl erinnerte sie an den Sturz durch das Zeittor, doch diesmal hielt es nur wenige Sekunden an. Als der Taumel nachließ, schlug Ravenna die Augen auf.
Sie lag auf einem weißen Teppichboden. Der Wind blähte lange Vorhänge auf, die Nacht vor den Fenstern war stockdunkel.
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