Die Hexen - Roman
Sitzungszimmer im ersten Stock aus war das Grabmal zu sehen gewesen. Es besaß ein Vordach und ein Türmchen, der Eingang war zu einem Spitzbogen geformt und mit einer kunstvoll geschmiedeten Gittertür verschlossen. In der Mitte des Gitters befand sich ein keltischer Knoten.
Mit klopfendem Herzen näherte Ravenna sich der Pforte. Kein Zweifel, sie hatte das Siegel des Todes vor sich. Wenn du mein Zeichen wiedersiehst, tritt ohne Zögern über die Schwelle! Viviales Aufforderung hallte ihr in den Ohren. Sollte sie wirklich Beliars Gruft betreten? Eigentlich schlau von ihm, dachte sie. Indem der Marquis auf seinem Grundstück ein Grabmal errichtete, konnte er seinen Zeitgenossen seinen Tod immer wieder vorgaukeln. Wie oft hatte er wohl als trauernder Nachkomme an seinem eigenen Begräbnis teilgenommen?, fragte sie sich.
Langsam stieg sie die Marmorstufen zum Eingang hinauf. Diesmal gab es kein Schloss und die Klinke war auch nicht durch irgendeinen üblen Zauber gesichert. Lautlos sprang die Gittertür auf. Ravenna prallte zurück, denn ein widerlicher Geruch schlug ihr entgegen. Ihr Herz pochte hart, als sie die Augen anstrengte, um in der frostigen Dunkelheit etwas zu erkennen. In dem Mausoleum war es kalt wie in einem Eiskeller und ihr Atem dampfte. In der Mitte des Raums befand sich ein Sockel mit einem quadratischen Steinblock, der in der Mitte eine Öffnung besaß. Sie stieß beinahe mit dem Knie dagegen, denn sie bemerkte ihn erst im letzten Augenblick. In dem Grabmal war es stockfinster, nur von den Wänden kam ein schwaches Glitzern wie von Glimmer oder Gneis. Der Gestank wurde stärker, je weiter sie sich hineinwagte. Von dem Sockel schwirrte ein Fliegenschwarm auf. Insekten krochen ihr über das Gesicht. Angeekelt wischte sie die Fliegen fort.
Als sie sich umdrehte, um wieder hinauszugehen und im Schuppen nach einer Taschenlampe zu suchen, schrie sie vor Schreck laut auf. Eine Frau stand unter dem Eingang des Mausoleums. Ravenna hatte sie nicht eintreten hören. Die Fremde hatte sich die Kapuze des Umhangs tief ins Gesicht gezogen und die Hände in die weiten Ärmel geschoben. Kampfbereit reckte sie die Arme vor die Brust und blickte Ravenna unter dem Rand der Kapuze mit einem lauernden Lächeln an. Ihre Augen waren mit schwarzer Farbe umrandet und lagen tief in den Höhlen. Die Kleider bestanden aus Spitze und schwarzem Samt und um den Hals trug die Frau ein blutrotes Seidenband, an dem ein umgedrehtes Henkelkreuz baumelte. Das Band bildete den einzigen Farbstreifen in der Nacht, sämtliche Umrisse flimmerten.
»Hör zu, ich will mich nicht mit dir anlegen. Warum gehen wir beide nicht unserer Wege?«, schlug Ravenna vor. Ihre Stimme klang belegt und hallte unter dem Gewölbe. Mit einer flinken Bewegung hob die andere Hexe die Hand. Da erkannte Ravenna, dass sie zwischen den Fingern eine Feder hielt. Mit Schaft, Spule und Fahne glich sie einer gewöhnlichen Rabenfeder oder einem Gänsekiel, doch es gab einen bemerkenswerten Unterschied: Die Feder bestand aus geschärftem Stahl.
Die fremde Hexe holte aus dem Handgelenk zum Wurf aus und schon wirbelte die Stahlfeder auf Ravenna zu. Sie schaffte es gerade noch, sich hinter einen der Steinsärge zu ducken, die in einem Halbrund um den Sockel standen. Im nächsten Augenblick prallte die Feder mit einem hellen Geräusch von der Grabplatte ab. Ein zweites Zischen erklang. Ravenna rollte sich zur Seite, doch die Feder riss ihr das Bein unterhalb der Kniescheibe auf. Der Schmerz machte sie wütend.
»Verdammt! Du gemeines Biest!«, fluchte sie, als sie auf die Füße kam. Mit einem gekonnten Schwung schlug die Schwarzmagierin den Mantel zurück. An einem Gurt, der quer über ihre Brust verlief, trug sie ein Dutzend weiterer Federn.
Ravenna hob die Hände. Sie dachte an Josce und an den Abwehrzauber, den sie von der schlanken Jägerin gelernt hatte. »Froystcræft!«, rief sie. Ein Stab aus Eis erschien zwischen ihren Fingern. Er war so kalt, dass Ravenna ihn beinahe fallengelassen hätte. Fahles Regenbogenfeuer wirbelte im Inneren, Farben wie man sie in dunstigen Winternächten sah, und als sie ihn über den Kopf hob, schrie sie laut auf: In dem blassen Lichtschein erkannte sie, dass Wände und Decke des Grabmals aus glitzernden Insekten bestand: Schaben, Spinnen und Käfer, die in allen Farben schillerten, Maden und Skorpione in allen Größen. Kostbarkeiten aus Eis, die das Gewölbe der Unterwelt bildeten.
Fluchend wehrte Ravenna die nächste Feder ab, die
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