Die Hexen - Roman
ihre Gegnerin genau auf ihr Herz gezielt hatte. Als die Spitze gegen den Stab prallte, bildete sich ein Frostpelz, und als die Feder auf dem Boden aufkam, zerbarst der Stahl wie Glas. Auf dem Boden bildeten sich linsenförmige Tropfen, die rasch verdampften.
Die Angreiferin zog eine Augenbraue hoch, ein Zeichen leichter Überraschung. Dann zog sie die restlichen Federn aus dem Gurt und warf sie auf einmal in die Luft. Am höchsten Punkt der Flugbahn ordneten sie sich zu einem Bogen an, zu einer Schwinge, die auf Ravenna zustürzte.
Ravenna schwang den Stab herum und ließ ihn über ihrem Kopf kreisen. Ihre Arme waren von der Arbeit mit schweren Werkzeugen gestählt und sie wusste, wie man einen Schaft am wirkungsvollsten packte. Es knackte wie zersplitterndes Eis, als ihre Waffe gegen die Federn prallte. Wie Quecksilber kullerten die Überreste der magischen Federn durch die Gruft, und wo sie auf das Gewürm des Teufels tropften, schmolzen die Kriechtiere und fielen von den Wänden. Rasch wurde die Lücke von nachrückenden Insekten geschlossen.
Die fremde Hexe keuchte. Sie wich zurück, als Ravenna auf sie zuging und den Stab nach ihr ausstreckte. »Es tut mir leid«, stieß sie hervor, »aber es ist besser für uns beide, wenn du jetzt verschwindest. Und zwar für immer.« Dann erschrak sie selbst, denn ein blasses Elmsfeuer flammte plötzlich um ihre Hände und um den vorgestreckten Stab. Entschlossen berührte sie ihre Gegnerin mit der Spitze.
Das Gesicht der jungen Frau verzerrte sich zu einem Schrei, doch aus ihrem Mund drang kein Laut. Der kalte Flammenschein raste um ihre Gestalt und sie packte Ravenna am Handgelenk. Die Haut der anderen Hexe fühlte sich weich wie Fledermauspelz an. Plötzlich tröpfelte Blut unter dem Seidenband hervor, das sie um den Hals trug, und sie röchelte. Dann zergingen die Finger, die Ravennas Arm gepackt hielten, und die Hexe verschwand in einem grellen Funkeln.
Keuchend sank Ravenna gegen den Steinbogen des Eingangs, der einzigen Stelle, an der es nicht vor Kriechtieren wimmelte. Vielleicht lag es daran, dass der Schlussstein des Bogens mit einem Pentagramm geschmückt war. Der Kampf mit Beliars Leibwächterin hatte nur wenige Minuten gedauert, doch Ravenna war schweißgebadet und der Schnitt in ihrem Bein brannte wie Feuer. Die Jogginghose klebte ihr am Schienbein und sie fluchte halblaut, als sie den Eisstab packte und in die Mitte der Gruft zurückhumpelte.
»Glywannier!«, befahl sie. Das regenbogenfarbene Schillern verstärkte sich. Sie schauderte, als sie erkannte, dass sie es selbst war, von der das Leuchten ausging: Ihre Gliedmaßen waren in ein fahles Licht gehüllt, von dem sie nicht mehr als einen Hauch spürte, einen Luftzug, der mit jeder Bewegung ihren Körper umwehte. Sie war ein Gespenst in einem Jogginganzug, das durch Beliars Gruft spukte.
Sie sah nicht mehr nach oben. Es war gruselig genug, das Schaben und Kratzen der Insektenpanzer rings um sich zu hören. Der Steinblock mit dem Loch in der Mitte war blutverschmiert. Diese Spuren waren noch nicht da gewesen, als sie die Gruft betreten hatte. Ravenna biss die Zähne zusammen, als sie sah, wie sich die Fliegen in Scharen auf dem verklebten Opferstein niederließen. Ratten huschten über den Boden.
Sie zwang sich, den Blick von dem Sockel abzuwenden. In dem fahlen Lichtschein zählte sie vier Marmorsärge, die auf Podesten standen. Als sie ihre leuchtende Hand über einen Deckel bewegte, erwartete sie, Namen wie Samiel Fontainebleau oder Arden Lambert zu lesen, doch stattdessen ergaben die goldenen Lettern nur ein einziges Wort: Damian .
Schaudernd ging Ravenna weiter. Wenn der Marquis seiner Umwelt nicht vorgetäuscht hatte, dass es sich bei dem Mausoleum um ein Familiengrab handelte, wen hatte er dann in dieser Gruft bestattet? War dieses Gebäude überhaupt ein Grabmal oder war sie in einem Tempel des Bösen gelandet? An einem Altar des Teufels, wie Lucian es ausgedrückt hätte?
Ravenna spreizte die Hand über dem nächsten Marmordeckel. Elmsflammen hüllten ihre Fingerspitzen ein, der Widerschein funkelte auf goldenen Buchstaben. Sie las den Namen und stöhnte laut auf. Oriana .
Das Blatt vom Baum der Nacht. Plötzlich begriff sie, wer die Leibwächterin gewesen war, die sie beim Betreten des Mausoleums angegriffen hatte: Es war das Mädchen, das auf dem Schiff ermordet worden war. Der Marquis hatte Oriana – oder besser gesagt, ihre sterbliche Hülle – zu seiner Leibwächterin ernannt. Nun
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