Die Hexen - Roman
begriff Ravenna auch, warum es im ganzen Haus keine Alarmanlage gab: Eine bessere Wächterin als eine untote Hexe konnte man sich kaum vorstellen.
Ein williges Opfer. Sie erinnerte sich an die Worte des Marquis und schauderte. Das ist etwas ganz Besonderes. Du solltest zusehen, dass du hier rauskommst, ermahnte sie sich. Sie atmete flach, als sie sich dem Ausgang zuwandte, denn der Gestank, der aus dem Loch im Opferstein strömte, nahm immer mehr zu. Da fiel ihr Blick auf den letzten Sarg. Der Deckel lag schräg auf der Kante und verschloss den Totenschrein nicht vollständig. Auf diesem Sarg stand kein Name, der Deckel war marmorweiß, und als Ravenna sich auf die Zehenspitzen stellte, bemerkte sie ein schwaches Funkeln.
Ihr Herz machte einen Satz. Sie lehnte sich gegen die Seitenwand und versuchte, ins Innere des Kastens zu spähen. Das Funkeln kam vom Kopfende, doch der Spalt, den der Deckel frei ließ, war zu schmal, um die Hand hindurchzustrecken. Mit dem ganzen Gewicht stemmte sich Ravenna gegen den Deckel, sie ächzte und stöhnte, als ginge es darum, eine Statue aus Sandstein an ihren Platz zu hieven. Als der Deckel nachgab, geschah es mit einem Ruck, der ihn über die Kante hinausschob und zu Boden krachen ließ.
Ravenna achtete nicht weiter auf die zersplitterte Marmorplatte. Sie beugte sich über den offenen Sarg, so dass das Licht, das um ihre Gestalt waberte, auf den roten Samt fiel, mit dem der Schrein ausgekleidet war. Auf einem Kissen am Kopfende lag ein alter Silberring. Selbst in dem unwirklichen Licht, das von Ravennas Händen ausging, funkelten die Steine, die rings um die Feuerblüte eingelassen waren.
Ihre Knie wurden weich. Sie hatte das Siegel des Sommers gefunden. Sofort streckte sie den Arm aus, doch sie musste sich weit über den Rand des Sargs lehnen, um den Ring an sich zu nehmen. Er schmiegte sich in ihre Hand, und das Eislicht, das in dem Stab wirbelte, verfärbte sich rosenrot. Ravenna stöhnte erleichtert auf und wandte sich dem Ausgang zu. Endlich war sie am Ziel!
Doch im Garten warteten schon Beliar und seine Anhänger auf sie. Breitbeinig stützte der Marquis die Hände auf den Knauf des Schuppenschwertes. Die Angehörigen des satanischen Zirkels bildeten einen Ring um das Grabmal. In den Händen hielten sie schwarze Kerzen und murmelten mit gedämpften Stimmen, so dass ihre Worte wie aus einem Munde hervorströmten. Der Fluch ließ in ihrem Rücken düstere Schatten entstehen, die hoch über ihre Köpfe hinaus züngelten.
Erschrocken sog Ravenna den Atem ein. Sie ließ das Siegel in der Hosentasche verschwinden. Dann hob sie den Eisstab, denn sie hatte nicht vor, sich kampflos zu ergeben.
Beliars Engelsgesicht verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. Die Zauberzeichen an den Ärmeln seiner Robe glühten und in seinen Augen brannte ein tiefrotes Feuer. Mit einer Hand schüttelte er die Stahlscheide von seiner Klinge.
»Willst du dich mit mir messen?«, erkundigte er sich. »Haben dir die vier Tage bei den Hexen so viel Mut eingeflößt?«
Ravenna hob das Kinn. Ihre Finger umkrampften den Stab und sie hoffte, dass die Spitze nicht allzu sehr zitterte. »Erinnerst du dich noch an die Frage, die ich dir im Bannkreis stellte, kurz bevor die Polizei kam?«, gab sie zurück. »Jetzt ist sie beantwortet. Du hast die Hexen bestohlen. Die Sieben haben mich ausgeschickt, um dir Melisendes Schatz wieder abzunehmen, und genau das werde ich jetzt tun. Und vor allem merk dir eines: Du wirst mich nie wieder hypnotisieren.«
Mit dem Stab schlug sie gegen die Kette, die Beliar unablässig durch die Finger der linken Hand gleiten ließ. Die Stabspitze glühte auf, als sie die silberne Faust berührte. Als der Anhänger schmolz, spürte Ravenna einen sengenden Schmerz auf der Stirn – dort hatte der Dämon sie mit dem Finger berührt.
Beliar brüllte auf und wirbelte das Schwert in die Höhe. Der magische Stab hielt dem ersten Hieb des Dämons stand und auch dem zweiten, obwohl Ravennas Finger sofort taub und gefühllos wurden. Mit einem Schrei ließ sie das Eislicht auflodern und blendete den Marquis, doch beim dritten Mal prallte die Drachenklinge ungebremst gegen den Stab. Er splitterte. Rosenblätter regneten auf die Kämpfenden nieder und von der Wucht des Schlags geriet Ravenna ins Taumeln. Hastig wich sie unter das Vordach zurück. Die Gruft bot die einzige Rückzugsmöglichkeit, auch wenn sie sich gerade noch geschworen hatte, das Mausoleum nie wieder zu betreten.
Mit
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