Die Hexen - Roman
gleichförmigen Schritten setzten Beliars Anhänger ihr nach. Der Kreis wurde enger. Die Hexer hoben die Arme und die schwarzen Flammen wuchsen noch weiter empor. Sie neigten sich zur Spitze des Dachs und drohten das Mausoleum wie eine Glocke zu umschließen. Von der Spitze des Türmchens, welches das Grabmal schmückte, zuckten Blitze empor. Da begriff Ravenna: Offenbar sollte sie das nächste Opfer werden. In den Särgen bewahrte Beliar seine untoten Leibwächter auf und der letzte Schrein – jener, in dem sie das Siegel des Sommers entdeckt hatte – war für sie bestimmt.
Mit der linken Hand umschloss sie Melisendes Siegel.
»Breccanier!«, schrie sie und stieß die geballte Faust in Beliars Richtung. Erst im letzten Augenblick öffnete sie die Finger. Ein Feuerrad schoss aus ihrer Hand hervor. Es raste direkt auf den Marquis zu und traf ihn an der Brust.
Doch es zeigte sich, dass Beliar vorgesorgt hatte. Unter dem Druidenmantel trug er seinen Harnisch, und als das Feuerrad auf die Brustpanzerung traf, zerplatzte es. Glutreste knirschten unter seinen Stiefeln, als er seiner Gegnerin nachsetzte und mit der Schuppenklinge ausholte. Ravenna wich zur Seite, doch sie glitt auf den Marmorplatten aus und stürzte. Das schuppige Eisen bohrte sich einen Fingerbreit neben ihrem Ohr in den Spalt, die Klinge nagelte sie an der Kapuze der Joggingjacke fest.
Mit einer verzweifelten Bewegung warf sie sich herum und trat dem Marquis gegen das Knie. Ein überraschter Ausdruck erschien auf Beliars Gesicht, als er einknickte und das Schwert die Stoßrichtung verlor. Seine Stiefelspitze traf Ravenna am Kinn. Der Stoff ihrer Jacke zerriss hörbar, Schmerz durchzuckte sie, als ihr Kopf zur Seite geschleudert wurde.
Sie krallte die Finger in das schmiedeeiserne Gitter und zog sich hoch. Sie musste sich an der Pforte festhalten, um nicht wieder wegzusacken, doch Viviales Symbol befand sich jetzt eine Handbreit vor ihrem Gesicht. Das Siegel des Todes. Folge meinem Zeichen, Ravenna!
Sie grub die Finger in die Schlingen des magischen Knotens, während sie mit der anderen Hand nach dem Siegel in ihrer Hosentasche tastete. »Jetzt!«, schrie sie, weil ihr nichts Besseres einfiel. »Los doch!«
Ein grelles Licht flammte auf. Und dann: nichts mehr. Dunkelheit und ein Tosen. Ein Sturz durch die Nacht. Langsam kreisende Sterne.
Ravenna blieb die Luft weg, als sie mit dem Rücken auf eine federnde Schicht aufprallte. Sie riss die Augen auf und glaubte im ersten Augenblick, sie habe die Gruft des Teufels nie verlassen, so schwarz war der Raum über ihr. Ein vertrauter Duft drang ihr in die Nase. Heu. Heu?
Verwirrt hob sie den Kopf, während sich ihre Finger in den abschüssigen Untergrund krallten. Sie lag auf einem Heuhaufen in einer Scheune, und während sie noch darüber nachdachte, wie das möglich sein konnte, knarrten die Bretter unter ihr. Sie gaben erst mit einem und dann mit einem zweiten Ruck nach. Beim dritten Knarren brach der Heuboden unter ihr durch und sie stürzte wieder, doch diesmal war es ein sehr körperlicher Sturz, der von Rumpeln, Getöse, Kettenrasseln und erschrockenem Muhen begleitet wurde. Dann schlug sie hart auf dem Boden auf.
»Au … Scheiße!«
Einige Atemzüge lang lag sie mit geschlossenen Augen da und versuchte, mit den geprellten Rippen Luft zu holen. Als sie die Lider öffnete, beugten sich zwei erschrockene Gesichter über sie.
»Verdammt nochmal«, sagte Yvonne. »Das ging jetzt aber schnell.«
Lucian sank auf ein Knie. »Ravenna«, stieß er hervor. »Wer hat Euch das angetan?« Seine Finger berührten ihr Kiefergelenk und sie spürte einen pochenden Schmerz.
So schnell, wie diese Fragen gestellt wurden, konnte sie noch gar nicht wieder klar denken. Mühsam hob sie die Arme und starrte ihre Hände an. Das fahle Licht, das sie umhüllt hatte, war verschwunden, sie war wieder sie selbst. Mit der rechten Faust umkrallte sie ein Bündel Heu und in der anderen Hand hielt sie einen Ring aus altem Silber.
»Das Siegel … ich habe Melisendes Siegel gefunden!« Sie lachte und schluchzte gleichzeitig. Das Sprechen fiel ihr schwer, und als sie sich zur Seite rollte und sich aufrichtete, rann ihr ein blutiger Speichelfaden aus dem Mund. Schaudernd schloss sie die Augen, als sie erkannte, dass Beliar sie fast getötet hätte.
Behutsam half Lucian ihr, sich aufzusetzen. Das Heu hatte den Aufprall abgemildert, und als sie sich umschaute, stellte sie fest, dass sie auf dem Stallboden in der Scheune ihrer
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