Die Hexen - Roman
Eltern saß. Unter dem Heuhaufen lugte eine verwitterte Steinplatte hervor, auf der Rosenblätter, Gänseblümchen und verstreute Gerste lagen. Teekerzen brannten auf den Balken.
Ravenna presste den alten Siegelring an sich. »Offenes Feuer im Stall? Was soll das? Was treibt ihr beiden da?« Blut füllte ihren Mund und tröpfelte auf die Joggingjacke. Sie verzog das Gesicht.
»Rasch, geht und holt Wasser!«, befahl Lucian. »Und seht nach, ob die Stalltür wirklich geschlossen ist. Niemand darf hier hereinkommen.« Zu Ravennas Erstaunen nickte Yvonne ruhig und ging ohne Murren ans Werk. Als sie allein waren, schlang Lucian die Arme um sie. Mit einem Seufzen ließ sie sich gegen seine Schulter sinken. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Ihr seid verletzt«, stellte ihr Ritter fest, während er sie in den Armen wiegte und ihr das wirre Haar aus dem Gesicht streifte. »Aber Ihr seid hier! Wie sehr habe ich Euch vermisst! Es gab da einige Tage, an denen ich glaubte, es sei alles verloren. Erinnert Ihr Euch noch, was zuletzt geschehen ist?«
»Ich habe mit Beliar gekämpft. Da waren seine Jünger und ein Grabmal, das gar kein Grabmal war, sondern ein Bluttempel … Entschuldige mich mal kurz«, murmelte sie, als sie aufstand und auf wackeligen Beinen zur Stalltür wankte. Die Natur forderte ihr Recht, und nachdem sie dem drängenden Bedürfnis endlich freien Lauf gelassen hatte, ging es ihr wesentlich besser. Niemand hatte sie vorgewarnt, wie sehr Hexenmagie und Schwertkämpfe durch eine volle Blase behindert wurden.
»Ich glaube, als N ächstes musst du mir eine Lehrstunde im Fechten geben«, sagte sie, als sie in den Stall zurückkehrte. Sie grinste schief, als Lucian zu ihr aufblickte. Er trug Jeans, ein schwarzes T-Shirt und die ausgemusterten Wanderstiefel ihres Vaters. Wenn um seinen Hals nicht das Triskel hängen würde, dann würde er glatt als der nette Junge vom Nachbarhof durchgehen, dachte Ravenna. Dann fiel ihr Blick auf seine Unterarme. Die feinen Narben, die von den Schwertübungen stammten, sprachen eine andere Sprache, die Sprache vom Kampf um Macht und Magie.
»Was ist passiert?«, fragte Lucian wieder. »Seit Wochen versuchen wir Euch aus Beliars Kerker zu befreien, doch erst heute Nacht ist es uns geglückt.«
»Heute ist Neumond«, sagte Ravenna und warf einen Blick in den dunklen Himmel. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, doch sie spürte, wie sich in ihrem Kopf vor Müdigkeit alles drehte.
»Das stimmt«, warf Yvonne ein. Sie trug eine Schüssel mit Wasser und hatte sich ein sauberes Tuch über den Arm gelegt. »Wir haben dich immer wieder gerufen, doch wie es scheint, konntest du uns nicht hören, solange du in der Klinik warst.«
»Du hast eine Beschwörung abgehalten? Ich meine … hier?« Ravenna schwenkte die Hand über das Eisengitter, die Milchkühe und den rostigen Pumpschwengel im Hintergrund.
»Das ist der Maistein«, sagte Yvonne und deutete auf die Felsplatte, die halb unter dem Heu verborgen war. »Lucian hat ihn entdeckt, und er meinte, wenn es uns gelingt, eine Verbindung zu dir aufzunehmen, dann an diesem Ort.«
Mit diesen Worten tauchte sie das Tuch in die Schüssel, drückte das Wasser heraus und tupfte ihr das Blut vom Gesicht. Erstaunt betrachtete Ravenna ihre Schwester. Yvonne wirkte ernster und irgendwie erwachsener. Und sie trug wieder das alte Medaillon, das Mémé ihr geschenkt hatte. Endlich hat sie Magie gewirkt, bei der es um etwas Wichtiges ging, dachte Ravenna. Es ging um mich. Als Yvonne das Tuch zur Seite legte, fasste sie ihre Schwester an den Händen und hielt sie fest.
»Danke«, sagte sie. »Das meine ich ganz im Ernst. Ihr habt mich buchstäblich im letzten Augenblick gerettet. Ich habe zwar keine Ahnung, wie ihr beiden euch gefunden habt, aber ich verdanke euch mein Leben.«
Der Ritter und ihre Schwester tauschten einen Blick. Als Yvonne sie wieder ansah, weiteten sich ihre Augen. »Was ist das?«, fragte sie und legte den Finger auf die Stelle zwischen Ravennas Augenbrauen. »Geht das nicht ab, wenn du reibst?«
Mit einem Stirnrunzeln beugte Ravenna sich über die Wasserschüssel. Auf ihrer Stirn gab es eine Stelle, die glänzte wie das Innere einer Muschel. Sie ertastete einen Kreis, um den sieben winzige Sicheln angeordnet waren. Die Spitzen zeigten nach außen, so dass eine Blüte entstand. Das Hexenmal hatte ungefähr den Durchmesser einer Münze und bestand aus demselben seltsamen Stoff wie der Stab, mit dem sie sich gegen den Teufel
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