Die Hexen - Roman
Eure Flucht bemerkt. Mit den Tieren haben wir eine Chance, durchs Unterholz zu entkommen.«
Ravenna fröstelte. Die Luft bei Tagesanbruch war kalt und der Kettenstahl nicht dazu angetan, sie zu wärmen. Das Haus ihrer Eltern versank hinter Efeu und Weinranken, die Fensterläden im ersten Stock waren geschlossen. Das bedeutete, dass ihre Eltern tief und fest schliefen und keine Ahnung hatten, dass ihre Tochter aus der psychiatrischen Klinik entflohen war und im Begriff stand, sich grußlos vom Hof zu stehlen – auf eine Reise ins dreizehnte Jahrhundert.
»Wenn ich ihnen doch wenigstens eine Nachricht hinterlassen könnte«, seufzte sie. »Dann wüssten sie, dass es mir gutgeht.«
»Das ist viel zu gefährlich«, widersprach Lucian, während er die Schwertscheide mit zwei dünnen Lederriemen hinter den Sattel band. Sie lag so, dass er das Heft mit einem Griff erreichen konnte. »Eure Eltern sind gute Leute, und ich verdanke ihnen viel. Ohne sie und ohne Eure Schwester wäre ich in dieser Welt wohl kaum zurechtgekommen. Aber zu viel Wissen schadet Eurer Familie nur, denn es macht sie verdächtig.«
Ungeduldig blickte er zum Pferdestall hinüber. Als Yvonne in Reitstiefeln, grauen, eng anliegenden Hosen und einer dunkelblauen Jacke erschien und eine Stute am Zügel führte, atmete er auf.
»Moment mal«, wandte Ravenna ein. »Niemand hat etwas davon gesagt, dass meine Schwester mitkommt.«
»Yvonne wird uns auf den Hexenberg begleiten«, erklärte Lucian knapp. »Das ist längst beschlossen.«
»Nein, das wird sie nicht«, widersprach Ravenna bestimmt. »Ich denke nicht daran, meine Schwester dieser Gefahr auszusetzen. Schau uns beide an: Kettenhemden und Schwertstahl. Du verlangst doch wohl nicht, dass ich in voller Rüstung durch den Wald reite, während sie schutzlos irgendwelchen herumfliegenden Bolzen ausgesetzt ist? Yvonne bleibt hier.«
Lucian drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht wirkte ungewöhnlich ernst. »Yvonne untersteht meinem Gewahrsam. Ich sagte Euch bereits, dass sie meine Gefangene ist. Sie begleitet uns nicht freiwillig zum Konvent, sondern um sich dort der Gerichtsbarkeit der Sieben zu stellen. So will es das Gesetz.«
Ravenna schnappte nach Luft. Yvonne war bereits aufgesessen und hörte den Streit vom Sattel aus an. Ein spöttisches Lächeln spielte um ihre Lippen, aber sie schwieg und zuckte nur mit den Achseln, als wisse auch sie nicht, was in Ravennas Ritter gefahren war.
»Dein Gesetz ist über siebenhundert Jahre alt«, fauchte Ravenna erbost. »Es gilt nicht mehr. Und das bedeutet, meine Schwester bleibt hier.«
Lucians dunkle Augen sprühten vor Zorn, als er sich auf den Rücken des Rappen schwang. »Eure Schwester hat Schwarze Magie gewirkt und einen Hexendolch benutzt, ohne das Recht dazu zu haben. Blut klebt an ihren Händen und die Sieben werden wissen wollen, wie es dazu kam. Das Gesetz der Magie gilt überall und zu jeder Zeit, es ist nicht an irgendein Jahrhundert gebunden, solange der magische Strom fließt. Und das tut er auch in Eurer Zeit, Ravenna, das könnt Ihr wohl schwerlich abstreiten. Eure Schwester reitet mit uns, und erst wenn die Hexen der Meinung sind, dass Yvonne harmlos ist, lasse ich sie gehen. Und nicht eher.«
Ravenna starrte ihren Ritter an. Das häufige Niederknien, die Verbeugungen und das Ihr und Euch täuschten sie manchmal über die Tatsache hinweg, dass Lucian und seine Freunde Krieger waren, die einem Orden dienten und ein Gelübde abgelegt hatten, das sie verpflichtete, ihr Leben dem Kampf gegen Schadenszauberei und Schwarze Magie zu widmen. Und nun musste sie feststellen, dass an Lucians Wille kein Vorbeikommen war.
Verärgert sah sie zu, wie der Ritter das Pferd wendete und Richtung Straße ritt. Yvonne folgt uns nicht freiwillig auf den Hexenberg – in diesem Punkt täuschte er sich gewaltig. Ihre Schwester gab sich kühl und gelassen wie immer, doch innerlich brannte Yvonne wahrscheinlich nur darauf, den Sieben gegenüberzutreten. Eine Begegnung mit echten Hexen – Ravenna wusste, wie lange Yvonne von dieser Gelegenheit träumte. Ihre kastanienbraune Stute gehörte zu dem Reiterhof der Ortschaft. Und nun erinnerte Ravenna sich auch, dass der Rappe aus demselben Stall stammte. Die ausgeliehenen Pferde und das Bündel mit Lucians Habseligkeiten … offenbar hatten die beiden die Flucht von langer Hand geplant.
»Ravenna!«, flehte Lucian, als er sah, dass sie noch immer mit zornrotem Gesicht dastand und die Fäuste ballte. »Kommt jetzt!
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