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Die Holzhammer-Methode

Die Holzhammer-Methode

Titel: Die Holzhammer-Methode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fredrika Gers
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Gefühl, vom Schicksal begünstigt zu sein. Plötzlich wusste sie, was mit dem Ausdruck «Naturerlebnis» gemeint war.
    Während das Tier sich weiter dem Aufbau seines Winterfettes widmete, aß auch Christine genüsslich ihr letztes Brot. Danach würde sie den gleichen Weg zurückgehen, ein Rundweg schien sich nicht anzubieten. Allenfalls den letzten Teil des Weges würde sie auf einer etwas anderen Strecke zurücklegen können, indem sie bei der Königsbachalm den unteren Weg einschlug. Der anfangs noch rein blaue Himmel hatte sich inzwischen offensichtlich darauf besonnen, wo er sich befand, und eine Vielzahl typisch bayerischer weiß-blauer Wolken aufgezogen. Christine sah zu, wie die Wolken sich zunehmend schneller über den Himmel bewegten und dabei immer größere Wattehaufen bildeten. Schließlich brach sie auf. Dabei konnte sie es sich nicht verkneifen, dem Steinbock ein «Tschüs» hinüberzurufen. Der antwortete aber nicht.

    Matthias war kein Langschläfer. In der Woche stand er morgens um sechs auf, am Wochenende zwei Stunden später. So saß er auch an diesem Samstag schon um acht Uhr mit seinem Morgenkaffee auf dem Balkon, um einen halben Zigarillo zu rauchen. Die Sonne wärmte bereits, der Tag versprach wunderschön zu werden, fast zu heiß für sein Vorhaben. Er wollte sich auf seine tiefrote 1200 er BMW schwingen und einige Stunden über die Landstraßen des Chiemgau kurven.
    Als er seine Ledermontur anlegte, stellte er sich vor, dass das Motorrad unten in der Garage schon ungeduldig auf ihn wartete und mit den Rädern scharrte. Wer ihn jetzt in seiner zwanzig Jahre alten Lederjacke, dem abgeschabten Halstuch und dem fliegenbeklebten BMW -Helm sah, würde sich kaum vorstellen können, dass er die ganze Woche mit gebügeltem Hemd und Krawatte vor seinem Computer saß. In der Bank hatte er sich zwar durch Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft kleine Freiräume erkämpft, aber die Krawatte musste er tragen wie alle anderen.
    Trotz der Hitze verzichtete er nicht auf den Rückenprotektor. Motorradfahrer töten nicht – sie werden getötet. Das war sein Spruch. Ihm war bewusst, dass er ein gefährliches Hobby hatte. Aber der Genuss war das Risiko wert. Die kurvenreichen Straßen durch die Berge waren einfach ideal. Viele Fahrer aus ganz Deutschland kamen hierher, um die Queralpenstraße zwischen Ramsau und Inzell zu befahren, oder sogar die ganze Runde ums Steinerne Meer. Auch um den Chiemsee herum gab es kleine gewundene Sträßchen mit wenig Autoverkehr und ästhetisch geschwungenen Kurven. Das alles hatte er direkt vor der Haustür.
    Oft sang er beim Fahren laut vor sich hin. Sein Repertoire reichte von Elvis bis zu den Beatles. Mit neueren Sachen konnte er nichts anfangen. Und die alten Hits passten auch am besten zu seinem Fahrstil, denn er war alles andere als ein Raser. Vielmehr genoss er das meditationsartige Einswerden mit der Maschine, das harmonische Wiegen in den Kurven. Nur wenn ein hässlicher Opel Vectra mit Dresdner Kennzeichen vor ihm über die Straße schlich und die herrliche Aussicht versperrte, griff er auf die vollen 163   PS zwischen seinen Schenkeln zurück, schaltete zwei Gänge herunter und war in wenigen Sekunden an dem Hindernis vorbei. Natürlich durfte man nicht darüber nachdenken, dass das Motorrad in diesen Sekunden so viel Sprit schluckte wie ein Golf  GTI . Aber sein Bike war ja auch kein Fortbewegungsmittel, sondern ein reines Spaßgerät – sein einziges wahres Laster.
    Er schob die Maschine aus der Garage, setzte den Helm auf, zog die Handschuhe an und drehte den Zündschlüssel herum. Ohne jegliches Geprotze fuhr er mit wenig Gas die schmale Gasse zur Hauptstraße hinab. Dann überließ er sich dem Sog des Asphalts, der auf ihn fast so entspannend wirkte wie seine morgendliche Meditation. Seit die Staatsgrenze nach Österreich kein zeitraubendes Hindernis mehr darstellte, konnten seine Touren sich in praktisch jede Richtung erstrecken. Matthias kannte jede Kurve im Umkreis von 100  Kilometern und wusste, wie man sie fahren musste.
    Nach einiger Zeit fand er sich auf dem Parkplatz an der Hochkönigstraße wieder. Neben ihm standen zwei schwere Maschinen mit italienischen Kennzeichen. Als die Fahrer ihre Helme abnahmen, stellte sich heraus, dass es zwei junge Frauen waren. Er bot den Italienerinnen von seinen Zigarillos an, aber die lehnten freundlich ab. Dann wandten sie sich dem Panorama zu und begannen sich leidenschaftlich zu küssen. Matthias schmunzelte.

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