Die Hüterin der Quelle
Zustände herbeisehnte.
Ihm schien nicht daran gelegen, etwas zu ändern. Zuerst hatte sie es der Gicht zugeschoben, dann der Phase seiner Rekonvaleszenz, aber langsam begann sie, sich Sorgen zu machen. Das war nicht der Veit, den sie kannte. Dieser blasse, zurückhaltende Mann, der nicht aß, nicht trank und sie nicht mehr begehrte, war ein Fremder.
»Wollt ihr morgen vielleicht Fisch haben?«, sagte sie. »Gebraten oder gekocht? Es ist Markttag, und du könntest wieder einmal geräucherte ...«
»Alles verboten!«, unterbrach er sie schnell. »Keine Fische. Nichts Geräuchertes. Ich darf kein Risiko eingehen.«
Selina schien plötzlich schneller zu atmen. Ihre Augen waren auf Veit gerichtet, durchdringend, als hänge ihr Leben von ihm ab. Sie strich sich die Haare hinter das Ohr, das linke, als ob sie Angst hätte, etwas zu verpassen.
Marie warf ihr einen scharfen Blick zu.
Ahnte das Mädchen, was sie beschäftigte? Veits Gleichgültigkeit bereitete ihr natürlich auch noch aus einem anderen Grund Kopfzerbrechen. Wenn sie nicht miteinander schliefen, konnte sie auch kein Kind empfangen.
»Aber ich hab gute Neuigkeiten.« Er strahlte. »Simon kennt sie schon, und nun sollt auch ihr sie endlich erfahren. Wir werden uns vergrößern.« Er legte das Papier vor ihr auf den Tisch, strich es glatt und winkte auch Selina heran. »Das sind meine Pläne«, sagte er. »Natürlich erst vorläufige Skizzen, die Reinzeichnungen mache ich dann morgen, bei Tageslicht.«
»Was soll das sein?«, fragte Selina belegt.
»Das Untergeschoss des Nebenhauses. Siehst du das nicht? Ich hab es angemietet. Dort werden wir das neue Holz lagern. Wir müssen uns nicht länger beschränken. Es ist so geräumig, dass wir sogar noch Platz für neue Arbeitskräfte haben, sollte es einmal nötig werden – Fasser, Vergolder, vielleicht sogar Farbenreiber …«
»Du willst künftig für jedes Stück Holz hinüber zum Nachbarn laufen?«, sagte Marie. »Ist das nicht viel zu umständlich? Außerdem wird keiner aus einer anderen Zunft in deinem Haus arbeiten. Du weißt doch, wie sie sind. Jeder beäugt jeden.«
»Eben nicht.« Veits Zeigefinger deutete ungeduldig auf das Blatt. Die Gichtknoten an seinen Gelenken waren zwar zurückgegangen, aber noch immer nicht verschwunden. »Wir brechen eine Türe durch. Hier! Dann sind die beiden Gebäude miteinander verbunden. Nun, was sagt ihr dazu?«
Selina nickte abwesend. Es war ihr nicht anzusehen, ob es sie überhaupt interessierte.
»Und du hast dir alles wirklich gut überlegt?«, fragte Marie vorsichtig.
»Was gibt es da noch zu überlegen?«
»Die Kosten, zum Beispiel«, sagte Marie. »Und der ganze Aufwand. Du musst den Zimmermann bezahlen und dann Monat für Monat die Miete ...«
»Herrgott – wenn man nichts wagt, gewinnt man doch auch nichts!« Er war enttäuscht. Alles in ihm weigerte sich zu akzeptieren, dass sie seine Begeisterung nicht auf Anhieb teilte. »Der Auftrag des Fürstbischofs ist nur ein Anfang. Weitere werden folgen, und dafür müssen wir gerüstet sein. Außerdem ist die Remise im Preis mit inbegriffen. Weißt du, was das bedeutet? Wir werden uns also an Ort und Stelle von der Wirkung der Figuren überzeugen können ...«
Ihre Augen schienen durch ihn durchzusehen. Er hielt überrascht inne, legte die Hand auf ihre Schulter und schüttelte sie sanft.
»Was ist denn auf einmal los mit dir, Marie? Wo ist die Kämpferin an meiner Seite geblieben? Du ziehst ja ein Gesicht, als sei der Leibhaftige hinter dir her!«
Sie blieb stumm.
»Es geht doch nur um eine Tür und ein paar neue Räume, sonst nichts. Wir werden nicht gleich verhungern, das verspreche ich dir!«
Marie nahm sich zusammen, versuchte ein Lächeln aufzusetzen und hoffte, dass es nicht misslang.
Es gab keinen realen Grund dafür, das wusste sie, aber sie fürchtete sich trotzdem. Das Haus in der Langen Gasse war ihr immer wie ein geschützter Raum erschienen, als etwas, das nur ihnen gehörte. Alles Böse musste draußen bleiben. In ihren vier Wänden, ihrem geliebten Ei, gab es keinen Platz dafür. Doch diese neue Türe sprengte die Schale. Was, wenn die Wände Risse bekamen?
Dann war das Böse nicht länger aus dem Haus verbannt.
DREI
M it jedem Schritt wurde sie langsamer, und als der Geruch modriger Planken ihr immer stärker in die Nase stieg, blieb Selina stehen. Wieso tat sie sich das überhaupt an? Die Kinder würden sie doch nur auslachen, sobald sie den Mund aufmachte. Und wieder
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