Die Hüterin des Schattenbergs
verstehen konnte, ganz so, als würde sie mit jemand anderem sprechen.
Rik runzelte die Stirn. W ar es möglich, dass Salvias ihnen zur Hilfe gekommen war?
»Warte, sie holen dich!«, rief Jemina ihm zu. »Hab keine A ngst!«
Angst? Rik hätte am liebsten laut aufgelacht. W ovor soll ich mich jetzt noch fürchten, dachte er, nachdem ich die letzten Stunden mit einem Dutzend mumifizierter Gebeine verbracht habe?
Er hatte den Gedanken eben zu Ende geführt, als ein leuchtender violett-weißer Nebel durch eine Öffnung in der Decke quoll und sich wie ein lebendiges Ding wabernd auf ihn zu bewegte. »Schatten, Jemina! W as ist das?« Rik schnappte nach Luft und wollte instinktiv zurückweichen, aber da war die W and in seinem Rücken.
»Hab keine A ngst, sie tun dir nichts!«, hörte er Jemina von irgendwo jenseits des Nebels rufen. Keine A ngst … Das war leichter gesagt als getan. Für einen A ugenblick war Rik überzeugt, dass Jeminas Stimme nur ein T rugbild war. W er konnte schon ahnen was in dieser Feste vor sich ging? Dann hatte der Nebel ihn erreicht und hüllte ihn ein. Rik versteifte sich, als er spürte, dass er aufgehoben und getragen wurde. Es war, als würde er schweben. Die W elt um ihn herum war ein einziges Leuchten in zartem V iolett und W eiß; sehen konnte er nichts. Wenige A ugenblicke später spürte er wieder Boden unter den Füßen und hartes Gestein in seinem Rücken. Das violette Leuchten erlosch.
»Rik!« Jemina umarmte ihn stürmisch. »Oh Rik, den Göttern sei Dank, du bist es wirklich. Du lebst. W ie geht es dir?«
Rik wollte antworten, aber Jemina redete einfach weiter: »Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Ist alles in Ordnung? Ich fürchtete schon, ich würde dich nie wiedersehen. Haben sie dir etwas getan? W as ist passiert? Kannst du laufen? W as ist mit deinem Fuß?«
»Mein Fuß ist …« Rik stutzte. »Mein Fuß!«
»Was ist damit?«
»Ich … ich hätte schwören können, dass er gebrochen war.« Rik starrte seinen Fuß an. »Aber jetzt …?« V orsichtig betastete er seinen Knöchel. »Das ist ein W under. Der Fuß ist wieder völlig gesund. Keine Schmerzen mehr – nichts!« Er schaute auf und starrte Jemina an. »Was geht hier vor? Ich habe dich schreien gehört und wollte dir helfen, dann bin ich in die Fallgrube mit den Skeletten gestürzt.«
»Es waren die Nerbuks. Sie haben dich da herausgeholt«, erwiderte Jemina. »Weil ich ihnen gesagt habe, dass du ein Hüter bist und es ohne dich keinen neuen Zirkel geben wird.«
»Die Nerbuks?« Rik schüttelte verwirrt den Kopf.
Jemina seufzte: »Na ja, ich weiß nicht ob sie hier auch Nerbuks heißen«, räumte sie ein. »Aber sie sehen genauso aus wie die W esen auf Doh-Jamal. Sie haben mich zum Buch des Lebens geführt. Das war, als du mich schreien gehört hast. Es tut mir leid, was dir zugestoßen ist. Ich … ich wusste nichts davon. W irklich. A ber wie es scheint, haben sie ihren Fehler eingesehen, denn immerhin haben sie deinen Fuß geheilt und dich freigelassen.«
»Heißt das, du hast das Buch?« Rik starrte Jemina an. Die A ussicht, dass sie die Feste wieder verlassen konnten, jagte ihm ein heißes Glückgefühl durch die Glieder. Plötzlich hatte er es sehr eilig. »Worauf warten wir dann noch?« Hastig richtete er sich auf und schaute sich um. Sie befanden sich wieder in dem T urm, den sie betreten hatten. Die T ür nach draußen stand weit offen, als wäre sie nie zugeschlagen, und ließ neben einem schwachem Lichtschein frische Luft herein. »Komm, lass uns keine Zeit verlieren und zurückgehen.« Er erhob sich, drehte sich um und machte ein paar Schritte auf die T ür zu.
»Rik?« Jeminas Stimme klang dünn und verletzlich – es war die Stimme eines jungen, unsicheren Mädchens, nicht die Stimme einer Siegerin.
»Was ist?« Rik blieb abrupt stehen.
»Ich habe das Buch nicht.«
Rik war nun völlig verwirrt. »Aber du hast doch gesagt …«
»Dass die Nerbuks mich zu dem Buch geführt haben«, beendete Jemina den Satz für ihn. »Das stimmt auch. Ich habe es gesehen und ich habe darin gelesen. A ber es zerfällt zu Staub, sowie ich es von dem T isch fortnehme, auf dem es liegt. Ich habe alles versucht, aber gegen so einen Zauber bin ich machtlos.«
»Und nun?« Rik konnte es nicht fassen. Jemina hatte das Buch des Lebens gefunden, und doch waren sie gescheitert.
»Wir fliegen zurück.«
»Mit leeren Händen?«
»Nicht ganz.« Jemina zog eine kleine, gläserne Phiole unter ihrem Gewand
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