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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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dorthin geführt, wo Hokkien sprechende Chinesen lebten: nach Manila und Batavia, nach Makassar und Palembang, nach Sumatra und Penang und Malacca. Selbst nach Terra Australis hatte es ihn verschlagen, wenn auch nur kurz. Obwohl er älter aussah, war er im selben Jahr wie ihr Vater geboren, der in diesem September dreiundfünfzig Jahre alt geworden wäre. Ein Lächeln huschte über Leahs Gesicht. Sie war überzeugt davon, dass der Vater ihr den Geschichtenerzähler gesandt hatte, damit sie ihre Trauer vergaß.
    Sie trat auf ihren Rocksaum und kam ins Taumeln. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit hatte sie sich bereits in Onkel Kohs Kammer umgezogen und kämpfte nun mit ihrem langen Rock. Mit einem Fluch befreite sie den Schuhabsatz aus der Spitze, als sie ein rauhes, nichts Gutes verheißendes Lachen hörte. Alarmiert blickte sie auf, direkt in die höhnische Fratze eines jungen Chinesen. Eine Messerspitze bohrte sich gleich darauf unter ihr Kinn und zwang ihren Kopf in den Nacken. Ein Schwall unverständlicher Worte ergoss sich über sie: Der Mann war Kantonese. Oder Hakka. Jetzt sah sie auch die anderen beiden. Ihre Gesichter waren geschwärzt; breitbeinig hatten sie sich neben ihr aufgestellt und verhinderten jede Flucht.
    Alles Denken setzte aus. Leah spürte nur noch das kalte Metall an ihrem Hals, ihre rasende Angst. Der Anführer packte sie am Zopf und schob sie vor sich her in eine dunkle Seitengasse. Es ging alles so schnell, dass die wenigen Passanten nichts bemerkten – oder aber nichts bemerken wollten. Man tat wohl daran, sich nicht mit den Banden anzulegen, die nach Einbruch der Dunkelheit die Straßen unsicher machten.
    Ihr Peiniger stieß sie so unvermittelt von sich, dass Leah das Gleichgewicht verlor und stürzte. Beim Aufprall schürfte sie sich die Handballen auf, und der Schmerz löste endlich ihre Erstarrung. Blitzschnell drehte sie sich auf den Rücken und trat in Panik zu. Sie konnte nicht erkennen, wo sie den Mann erwischt hatte. Sein hasserfüllter Schrei entfachte ihren Mut. Sie sprang auf die Füße und schrie jetzt auch auf Deutsch. Todesangst erlaubte keine andere als die Muttersprache. Der Anführer hatte sich wieder gefangen und stürzte sich auf sie. Sie kratzte und biss, sie wand sich wie ein Aal. Stoff riss, sie bekam einen Schlag gegen die Schulter, gegen die Nase, aufs Auge. Mit wachsender Verzweiflung realisierte sie, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde. Eine Faust traf sie an der Schläfe. Sie taumelte nach hinten. Hände griffen nach ihr, packten sie.
    Und dann war plötzlich nicht mehr Leah in Bedrängnis, sondern ihre Gegner gerieten in Not. Mindestens fünf Schatten wälzten sich durch die Gasse, lautes Heulen und Keuchen ertönte, ein schriller Schrei, der abrupt erstarb, dann löste sich ein Mensch aus dem Gerangel und flüchtete, und ein zweiter, und dann war alles vorbei. Mit schreckgeweiteten Augen sah Leah den siegreichen Kerl auf sich zukommen, ohne zu wissen, ob es sich um einen der Angreifer handelte oder ob er ihr Retter war. Sie presste sich zitternd gegen die Hauswand.
    »Miss? Geht es Ihnen gut?«
    Leah stieß erleichtert die Luft aus. Der Mann hatte Englisch gesprochen. Sie nickte. Ein Streichholz wurde angerissen, und im nächsten Moment versank Leah in den Augen jenes schönen Chinesen, dem sie vor vielen Monaten in Whampoas Garten begegnet war.
     
    Sie erlaubte ihm nicht, sie bis vors Haus zu bringen, sondern hieß die Kutsche ein wenig entfernt neben der Kathedrale des Guten Hirten halten. Während der Fahrt hatten sie kein Wort gesprochen und jeden Blickkontakt gemieden, doch Leah war sich der Anwesenheit des Mannes in der dunklen Kutsche nur allzu bewusst. Ihre Haut kribbelte, und ihr Magen zog sich zusammen, wann immer sie in seine Richtung blickte. Erstaunlicherweise fühlte sich beides nicht unangenehm an, eher war das Gegenteil der Fall. Leah schob ihre sonderbare Gefühlslage auf die überstandene Todesangst, wusste aber gleichzeitig, dass dies nur ein Teil der Wahrheit war: Hatte sie in den letzten Wochen und Monaten nicht wieder und wieder ihre Begegnung in Whampoas Garten in ihren Tagträumen durchlebt?
    Sobald das Pferd zum Stehen kam, kletterte sie aus der Kutsche. Ihr Retter war ebenso schnell auf der anderen Seite ausgestiegen und stand nun vor ihr. Das weiche Licht einer Kokosöllampe schmeichelte seinen feinen Zügen. Leah räusperte sich, versuchte ein paar Worte des Dankes zu sagen, doch es misslang. Zum ersten Mal in ihrem

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