Die Insel Der Tausend Quellen
Sorgen um das kleine Mädchen, das nicht nur mit dem Gewaltmarsch völlig überfordert war, sondern obendrein mit dem Grauen der Nacht zu kämpfen hatte. Wann immer es die Möglichkeit hatte, rannte es zu Nora und versteckte den Kopf zwischen ihren Röcken. Die Gelegenheit bot sich aber kaum, die Maroons ließen der Gruppe keine Zeit zum Rasten. Sie durften keinem Weißen begegnen, und wenn doch, so durften sie ihn nicht entkommen lassen. Die vielen Menschen und die Vielzahl der geraubten Tiere würden auf jeden Fall auffallen und waren gegen ein Aufgebot an Pflanzern auf freiem Feld kaum zu verteidigen. Also hasteten sie weiter, bis es Morgen wurde und Passatwinde die berühmten blauen Nebel über die Berge trieben. Nora hatte allerdings keinen Blick für das Naturschauspiel. Sie war einfach nur zu Tode erschöpft, jeder Schritt war eine neue Qual.
Im Laufe des Tages kam dazu quälende Hitze, die auch kaum nachließ, als sie in höhere Bergregionen hinaufstiegen. Die Vegetation änderte sich hier ein wenig, der dichte Dschungel machte Büschen und Akaziengewächsen Platz, die in betörend bunten Farben blühten, umtanzt von Schmetterlingen und Kolibris. Nora dachte traurig daran, dass sie diese Pflanzen niemals würde bestimmen können. Und dass es ihr nun auch egal war.
Irgendwann war ihr dann alles egal, sie wollte nur noch sterben, während sich die befreiten Sklaven um sie herum eher über Hunger beklagten. Der Marsch selbst schien sie kaum anzustrengen. Jetzt, da sie begannen, sich sicher zu fühlen, stimmten die Jüngeren sogar Lieder an. Das behagte dem Anführer allerdings nicht.
»Ihr still. Wir längst nicht in Nanny Town. Hier können sein Händler, uns werden verraten.«
Nora empfand vage Wut auf die weißen Händler, die ganz ungeniert mit den Maroons Geschäfte machten. Sie mussten wissen, dass Geld und Güter von geplünderten Plantagen stammten. So konnte es dem Anführer auch eigentlich egal sein, ob man sie verriet oder nicht. Jeder wusste, dass der Überfall auf Cascarilla Gardens von Maroons begangen worden war.
»Aber nicht wissen, von welche Maroons«, erläuterte der Anführer, als die junge Haussklavin ihm genau das vorhielt. »Kann sein Nanny, kann sein Cudjoe, kann sein Accompong aus Saint Elizabeth Parish. Sie nicht wissen, wen angreifen zu Rache. Also angreifen alle, wozu nicht haben genug Leute, oder angreifen keinen. Was besser.«
»Gibt viele Angriffe?«, fragte das Mädchen ängstlich.
Der Anführer stand auf. Sie hatten an einem Fluss kurz gerastet, um zu trinken, aber nun wollte er gleich weiter. »Mal mehr, mal weniger. Aber keine Angst. Nichts passiert. Nanny Town ist uneinnehmbar!«
Den letzten Satz sprach er stolz in absolut korrektem Englisch. Nora seufzte. Also schlechte Chancen für Doug, wenn er sie suchte.
Die befreiten Sklaven bewegten sich nun auf ausgetreteneren Pfaden, obwohl auf den ersten Blick keiner der Wege als solcher erkennbar gewesen wäre. Aber es gab doch keine Dornen und Wurzeln mehr, über die man ständig stolperte, und die Männer an der Spitze des Zuges schienen sich sehr genau auszukennen. Nora hoffte, dass sie Nanny Town näher kamen, aber der Weg zog sich dennoch endlos hin. Irgendwann sah jedes der Täler, jeder der Hügel, die zusehends zu Bergen wurden, gleich für sie aus, und dann schaute sie überhaupt nur noch auf den Boden, um ihre geschundenen Füße vielleicht auf Sand und nicht auf Stein zu setzen. Akwasi hielt sie immer noch fest, ohne auch nur ein Wort zu ihr zu sagen. Es war fast gespenstisch, stundenlang in anhaltendem Schweigen hinter ihm hergezerrt zu werden.
Auch die anderen Sklaven richteten kein Wort an Akwasi, und an Nora natürlich erst recht nicht. Akwasis Entschluss, die weiße Frau auf Biegen und Brechen mitzunehmen, stieß auf allgemeine Missbilligung. Der junge Mann machte sich damit zum Ausgestoßenen. Außerdem munkelte man, er sei es gewesen, der den Backra getötet habe. Das brachte ihm den Respekt der anderen ein, aber auch eine Art abergläubische Furcht. Wenn jemanden der rächende Blitzschlag treffen würde, den der Reverend untreuen Dienern jeden Sonntag voraussagte, so zweifellos ihn.
Mansah hörte irgendwann auf zu weinen. Mit leerem Gesichtsausdruck folgte sie Máanu – sie musste nicht einmal mehr gezogen werden. Das Mädchen war längst zu erschöpft, um Widerstand zu leisten. Endlich, als es wieder Abend wurde, ließ der Anführer der Maroons halten.
»Machen Rast zwei Stunden«, sagte er. »Nichts
Weitere Kostenlose Bücher