Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Leitungswassers nicht anmerken zu lassen. Und mittendrin die drei Freunde meiner Mutter: Sayago, Leiva und Porras.
Als sie mich so gebannt sah, nahm sie mir das Foto aus der Hand und betrachtete es ebenfalls genau. Dann sagte sie in herausforderndem Ton: »Weißt du, dass du sozusagen auch mit auf dem Bild bist?«
»Ich?«
»Genau in der Woche erfuhr ich, dass ich schwanger war. Direkt vor dem Fototermin habe ich noch in die Flughafentoilette gekotzt. Deswegen bin ich so bleich. Am nächsten Morgen ging ich zum Frauenarzt …«
Das Foto habe ich behalten.
»Zum Flughafen! Zum Flughafen! Es eilt!«
Das sind meine Brüder in ihrer Ungeduld. Schon seit einer Weile nerven sie mich mit Rufen und Drohungen, nur halb im Scherz, sie bedrängen mich auf jedem Meter, weil ich der Jüngste bin und sie glauben, sie könnten mich herumkommandieren. Jetzt, wo ich am Steuer sitze, wünschen sie sich, ich würde wie ein besessener Taxifahrer durch diese Geschichte hetzen, mit quietschenden Reifen in jeder Kurve, Abkürzungen durch winzige Nebenstraßen und ohne jeden Respekt vor roten Ampeln. Wir geben dir ein gutes Trinkgeld, erspar uns die Details und bring uns direkt zum Ort des Geschehens. Doch Gabriels Abenteuer haben keine Eile, im Gegenteil, sie kauern sich nun in die graue Stille eines Februarmorgens, zu Füßen eines Flugzeugs. Und das wissen die drei ja auch.
Alle zusammen wollen wir die unwahrscheinliche Arithmetik eines gemeinsamen Vaters und vier auf Europa verteilter Mütter formulieren, schon klar, aber jetzt bin ich es, der sich am Solo versucht. Christofs, ihr alle habt eure Gelegenheit gehabt und habt sie weiß Gott genutzt. In diesem Moment aber entscheide ich, der Sohn von Rita Manley Carratalà, über die Dauer des Aufschubs. Ihr seid Chor und Orchester. Und fürs Applaudieren zuständig. Wieder einmal müssen wir Anlauf nehmen, um springen zu können, und darum kehren wir nun in den Oktober 1967 zurück (und noch weiter in die Vergangenheit, wenn nötig), als Rita sechzehn Jahre alt war und ihr Zimmer, für ihre Eltern unzugänglich, wie ein Museum des pubertären Horrors aussah. All ihre Komplexe, Träume, Enttäuschungen, Fantasien und Monster stauten sich dort Tag und Nacht, und wenn man dagegen nicht, wie ihre Freundinnen, immun war, dauerte es nur wenige Minuten, bis einem dadrin der Kopf schwirrte. Sie hatte die Wände mit einer Fotogalerie ihrer musikalischen Idole gepflastert, schräg gehängt, damit sie noch wilder aussahen. Allezeit lief ein Zenith-Radio bei voller Lautstärke, weil der Regler kaputt war, und die verbogene Antenne strebte zum Fensterlicht hin, als funktionierte sie per Fotosynthese. Dutzende Parfumpröbchen, Lidschatten, Lippenstifte und andere Make-up-Artikel, bei den Präsentationsveranstaltungen von Wella und Avon geklaut und säuberlich auf dem antiken Schreibtisch aufgestellt, bildeten das Modell einer Stadt aus Glas. In einer Ecke langweilten sich ein paar verstaubte Wollknäuel und die Strickmaschine, die sie als Leihgabe erhalten hatte, als sie Fernkurse bei CCC buchte. Zwischen den zahnbewehrten Leisten sahen fünfzehn Zentimeter eines roten Pullovers hervor, der im vorigen Winter sechs ganze Wochen lang Ritas Geduld und Interesse auf sich gezogen hatte – bis zwei Reihen vor den Beinen des Hirschs, der ihn schmücken sollte.
Bei halb offener Zimmertür lag sie an diesem Samstagmorgen auf ihrem Bett und genoss es, dem Rumpeln ihrer Eltern zu lauschen. Sie liefen im Haus auf und ab, öffneten Schränke, packten Wäsche in die Koffer und stritten sich alle paar Augenblicke um Nichtigkeiten, weil sie so nervös waren. Musik in Ritas Ohren. Zum ersten Mal in ihrem Leben reisten die beiden ins Ausland, und sie würde allein bleiben, volle sechs Tage lang. Von Samstag bis Samstag. 168 Stunden. 10 080 Minuten. 604 800 Sekunden erwachsener Freiheit, und durch den Türspalt ließen sie sich schon spüren! Die sechs Tage boten Raum für all die Missetaten und Sünden, die Rita sich vorstellen konnte (samt und sonders sehr unschuldig), und sogar noch Zeit für jene, die sie sich nicht einmal auszumalen wagte. Keine Frage: Nun beneideten ihre Freundinnen sie um ihre modernen Eltern, und sie, Einzelkind zweier Einzelkinder, verhätschelt und behütet, bis es wehtat, konnte zum ersten Mal die angenehmen Seiten dieses Mangels kennenlernen.
Eines Abends war ihr Vater aus dem Geschäft heimgekommen und hatte übers ganze Gesicht gestrahlt. Zum Abendessen hatte er eine Flasche
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