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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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die wir zurücklassen wie die Spur einer Schlange im Sand. Das ist ein Bild, mit dem wir uns oft trösten. Letztlich unterscheidet sich unser Tun nicht groß von der willkürlichen Deutung eines Traums. Wir raffen vier oder fünf Szenen zusammen, die wir beim Aufwachen noch irgendwie herüberretten können, ein paar Empfindungen, so verschwommen wie Gegenstände, die sich nach einem Schiffbruch unter der Wasseroberfläche zeigen, und die reihen wir an einem roten Faden auf, damit sie etwas Verständliches ergeben. Aber das Leben ist etwas anderes. Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst – das, was wir jeden Tag konstruieren, ohne uns dessen bewusst zu sein. Darum haben die meisten Situationen, während wir sie erleben, keine besondere Bedeutung. Das Trugbild des Sinns kommt erst nachträglich. Wir sitzen in einem Café, reden mit einem Freund und rechtfertigen in der Rückschau unsere Vergangenheit. Ordnen sie. Aus der Notwendigkeit, unser Leben zu verstehen, machen wir eine Tugend. Dieser Vorgang ist auch nichts wesentlich anderes, als wenn wir unseren Sommerurlaub auf einer idyllischen Postkarte zusammenfassen, in vier Klischeesätzen und auf den letzten Drücker, sodass sie bei unsern Angehörigen oder Freunden erst ankommt, wenn wir auch selbst schon wieder heil und ganz zu Hause sind. Wir reduzieren unser Leben auf ein paar Worte, wir vereinfachen es unentwegt, dabei liegt sein wirklicher Sinn in der Komplexität, Widersprüchlichkeit, Ungewissheit.
    Wir bitten um Nachsicht für unsern philosophischen Anfall. Schon einmal haben wir ja betont, dass diese Seiten uns etliche Sitzungen beim Psychiater ersparen sollen. Und alles passt nun wunderbar zusammen, weil sich am gestrigen Samstag endlich – endlich! – der Strang der Vergangenheit und der Strang der Gegenwart vereinigt haben. Da wurde uns plötzlich klar, wie dumm wir waren, zu glauben, wir könnten Gabriels Schritte rekonstruieren. Wir dachten, wir wüssten alles. Aber so sah es eben nur in der Rückschau aus. Im Grunde wussten wir gar nichts.
    Dienstagabend, also mit gerade einmal drei Tagen Vorlauf, bat uns Cristòfol zu einem weiteren Treffen.
    »Ich habe besondere Neuigkeiten«, kündigte er jedem von uns an, »aber das kann ich dir nicht am Telefon erzählen. Zu aufwendig. Du musst mir vertrauen und nach Barcelona kommen. Vielleicht geht der Schuss daneben und wir sitzen da und langweilen uns. Aber ich würde sagen, Samstagabend passiert was.«
    Unser letztes Treffen, daran sollten wir vielleicht erinnern, lag erst drei Wochen zurück und hatte ein paar wichtige Hinweise erbracht. Der Kellner aus der Bar Carambola hatte uns gesteckt, dass Feijoo, sein Chef, seit Monaten auf der Jagd nach Gabriel war, wegen Spielschulden. Böse Sache. Die zweite heiße Spur lag bei der Nachbarin im Carrer Nàpols, der früheren Trapezartistin namens Giuditta. Als wir bei ihr waren, fischte Christopher den Joker mit dem dritten Auge aus der Sofafalte, aber wir wussten den Fund nicht zu deuten. Wie hatten wir die Nachbarin einzuschätzen? Als Verbündete oder als jemanden, vor dem wir auf der Hut sein mussten? Es konnte sein, dass Gabriel die Spielkarte vor Monaten bei einem freundschaftlichen Besuch dort verloren hatte. Oder dass er sie versteckt hatte, weil man ihm auf die Pelle rückte. Oder dass sie ihm herausgerutscht war, während Feijoo, Miguélez und ihre Schergen ihn unter dem kaltherzigen Blick dieser Italienerin folterten …
    Cristòfols Worte klangen verlockend, und wir anderen Brüder ließen bereitwillig alles stehen und liegen. Christof sagte eine Aufführung mit Cristoffini am Samstagabend ab, ein reiches Gör aus Berlin würde seinen Geburtstag ohne Bauchredner feiern müssen. Christophe hatte ein paar Klausuren aus dem Kurs Quantenmechanik 2 zu korrigieren, aber das war so läppisch, dass er es im Flugzeug erledigen konnte oder wenn zwischendurch mal nichts los war; er schläft nachts nur vier Stunden. Chris sollte am Sonntag zu einer Plattenbörse in Bristol, um dort einen Kunden zu treffen, der ihm die erste spanische Ausgabe des Beatles-Albums Let It Be abkaufen wollte. Das Besondere daran war, dass die Songtitel auf der Hülle alle in kastilischer Übersetzung standen: Déjalo estar, El largo y tortuoso camino … Aber es gibt in England jedes Wochenende irgendwo eine Beatles-Börse, er hatte eh keine Lust, hinzugehen, da musste der Kunde eben warten, bis es so weit war.
    Dass unsere Suche nach Gabriel auf einmal so dringlich sein sollte,

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