Die Ketzerin von Carcassonne: Historischer Roman (German Edition)
sie aus ihren Überlegungen und hielt ihre Kerze der Eingangstür entgegen. » Dieser Mensch schiebt eine Handkarre. Eine Frau scheint darin zu liegen. «
Adelind unterdrückte einen Seufzer. Ihr Körper war schwer wie Stein, und jede Bewegung kostete sie so viel Anstrengung wie ein langer Gewaltmarsch. Wann endlich würde sie schlafen dürfen? Sie hatte die meisten ihrer Helferinnen bereits zu Bett geschickt, da sie glaubte, die schlimmsten Wunden seien nun versorgt, doch nahm der Strom des Leids kein Ende. Aber sie sah Ursanne und auch Hildegard aufspringen, sodass sie ihrem Beispiel folgte.
Mabiles Kerze erhellte das Gesicht eines Jungen mit schwarzen Locken und bernsteinfarbenen Augen. Adelind fühlte einen Stich in ihrem Herzen. Wo Peyres jetzt wohl sein mochte? Dieser Junge war deutlich schmächtiger als er, blasser und schien gleichzeitig so erschöpft, dass er um einige Jahre älter wirkte. Seine Karre steckte in der Eingangstür fest, da die Speichen zu breit waren, um hindurchzupassen. Adelind erblickte einen blutgetränkten Frauenkörper in Gewändern, die prächtig gewesen sein mussten, bevor rohe Hände sie zerfetzten.
» Sie wollte unbedingt hierher. Nach Carcassona. Ich bin gelaufen « , stammelte der Junge. Sein Atem kam in raschen, rasselnden Zügen. Er stützte sich an den Griffen der Karre ab, um nicht zusammenzubrechen.
Gedanken jagten durch Adelinds Kopf. Warum sollte eine schwer verletzte Edelfrau ausgerechnet hierherkommen wollen? Sie musste diesen Ort kennen, war sie vielleicht… Ein kurzer Blick auf die Verletzte befreite sie von einer Ahnung, die das Grauen allzu erdrückend gemacht hätte, um ihm noch länger Widerstand zu leisten. Die krausen Locken glichen in keiner Weise Esclarmondes glatter, schwerer Haarpracht. Sie beugte sich über die Unbekannte und staunte, dennoch vertraute Gesichtszüge wahrzunehmen. Schminke und Blut waren ineinander verlaufen, bedeckten die Haut der Verletzten wie kindliche Schmiererei eine Schiefertafel, doch darunter erkannte Adelind Marcias spitzes Kinn und ihre hohen Wangenknochen. Die Augen waren geschlossen. Nur ein zaghaftes Heben der Brust machte deutlich, dass noch ein Hauch von Leben in dem geschundenen Körper steckte.
» Kommt ihr aus Bezers? « , fragte sie den Jungen flüsternd. Er nickte nur. Adelind wusste nicht, ob sie wirklich froh sein konnte, dass es tatsächlich Überlebende aus dieser Stadt gab. Einen Menschen, den sie einst hatte vor Lebenslust sprühen sehen, derart zerstört vor Augen zu haben war die schrecklichste Erfahrung dieses grauenhaften Tages.
» Haben wir noch irgendwo ein freies Lager? « , wandte sie sich ratlos an Mabile.
» Nein, aber wir werden Platz machen müssen. Ich sehe mich um. «
Sie huschte los, um gleich darauf zurückzukehren.
» Da ist ein Mann, dem es schon besser geht. Er hat eine Brandwunde, aber ist in der Lage aufzustehen. Ich werde ihn oben auf dem Speicher auf ein paar Getreidesäcken unterbringen. Eine Decke treibe ich schon irgendwo auf. Morgen werde ich meinen Cousin um Hilfe bitten. Er kennt einige Wirte in der Stadt. So können all jene, die wir wieder auf die Beine stellen, sicher unterkommen, bevor hier alles aus den Nähten platzt. «
Adelind überlegte kurz, wie ein gewöhnlicher Bettler über derart hilfreiche Beziehungen verfügen konnte. Auch seine Kenntnis der Ereignisse im Land war erstaunlich gut. Doch bevor sie diesen Gedanken länger nachhängen konnte, hatte Mabile den Mann bereits hinausgeführt und auf eine leere Stelle auf einer Strohmatte gewiesen. Zwei weitere Männer lagen darauf, denn die in Spitälern übliche Trennung der Geschlechter war bereits in den frühen Morgenstunden aufgehoben worden. Als Adelind beide sanft zur Seite schob, um Platz für Marcia zu machen, stöhnten sie leise, aber ihre Augen blieben geschlossen. Rosa tauchte im Hintergrund auf, warf einen kurzen Blick auf die freie Stelle auf der Matte.
» Neue Verletzte? « , fragte sie nur.
Adelind nickte. » Es ist Marcia. «
Rosa verzog keine Miene. Adelind hatte an diesem Tag kaum mit ihr gesprochen, denn die magere, hochgeschossene socia verlor angesichts des hereinströmenden Elends niemals die Fassung, brach beim Anblick eines geschändeten fünfjährigen Mädchens nicht in Tränen aus und übergab sich nicht, als blutiges Gedärm aus einem aufgeschnittenen Bauch quoll. Stattdessen arbeitete sie unermüdlich, schleppte Wasser, zerriss Stoffballen für Verbände und wischte so oft wie nur möglich
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