Die Ketzerin von Carcassonne: Historischer Roman (German Edition)
nach vermögenden Männern Ausschau zu halten. Peyres wurde ebenfalls von der Menge verschluckt, nachdem er Adelind aufgefordert hatte, eine Weile beim Wagen zu warten. Simon lief mit seinen Ketten herum. Antonius baute sich neben seiner Kiste auf und begann, in der fremden Sprache herumzuschreien, so laut, wie es seine feine Stimme nur zuließ. Er ging wohl davon aus, dass Menschen überall auf der Welt unter Zahnschmerzen litten, doch zunächst schenkte man ihm kaum Beachtung. Vielleicht lag es an den vielen Schulen der Medizin, überlegte Adelind, wo bessere Methoden gelehrt wurden, die Kranken von ihren Schmerzen zu befreien. Hildegard stand tapfer an Antonius’ Seite, lächelte Vorbeigehende zaghaft an, doch wurde auch sie übersehen. Dann geschah etwas, womit Adelind niemals gerechnet hätte. Während Antonius sich weiterhin heiser brüllte, um auf seine Fähigkeiten als Zahnkünstler hinzuweisen, hob Hildegard die Hand und riss den dunklen Nonnenschleier von ihrem Haupt. Ihre Wangen glühten dabei, ob aus Aufregung oder Scham, vermochte Adelind nicht zu beurteilen, doch stockte ihr für einen Augenblick der Atem.
Hildegards Haar war bis zu den Ohrläppchen gewachsen. Feine weizenblonde Strähnen leuchteten wie Sonnenstrahlen, erhellten ihr Gesicht und ließen ihre Augen noch blauer werden. Adelind hatte stets gewusst, dass ihre Schwester eine schöne Frau war, aber erst jetzt wurde ihr die Wirkung dieser Schönheit bewusst. Mit dem kurzen Knabenhaar, den leicht geröteten Wangen und ihrer milchfarbenen Haut erinnerte Hildegard an Bildnisse von Engeln an Kirchenwänden. Mehrere Männer blieben stehen, um sie anzustarren. Antonius stellte sich schnell auf die veränderte Lage ein, wies mehrfach auf die Maid an seiner Seite und machte den Zuschauern deutlich, dass sie beim Bekämpfen der Zahnwürmer tröstend und betend Hilfe leisten würde. Der erste Kunde war schnell gefunden. Er gab sich mit Dämpfen von Bilsenkraut zufrieden, doch tätschelte er dabei ständig Hildegards Hand, die sie ihn gnädig kneten ließ, obwohl ihr Gesicht leichten Widerwillen ausdrückte. Bei seinem Nachfolger wurde tatsächlich ein Zahn gezogen. Diesmal zeigte Hildegard deutlich mehr Anteilnahme, betete und wischte das Blut vom Gesicht des Gepeinigten. Eiter und Erbrochenes ergossen sich über ihren Kittel, als Antonius sein Werk vollendet hatte. Der Geruch allein reichte aus, damit Adelind übel wurde, doch Hildegard bewahrte trotz ihrer Schwangerschaft ein mitfühlend lächelndes Gesicht. Sie schien bei dieser Aufgabe weitaus gefasster, als wenn sie gezwungen war, Fleisch zu essen. Gemeinsam mit Antonius verdiente sie an diesem Nachmittag viel Geld.
Peyres und Marcia kehrten kurz vor Einbruch der Abenddämmerung zurück. Auch Simon, der sogar ein paar Ketten verkauft hatte, fand sich ein. Der Wagen wurde zu einem kleinen Steinhaus am Stadtrand gelenkt. Adelind überlegte, ob dies eine weitere Herberge war, die sie dank Hildegard nun würden bezahlen können, doch zog sie es vor, Peyres nicht zu fragen. Seit dem Besuch bei Bischof Nantelmus war er nur noch schweigsam und mürrisch gewesen, sodass sie sich endgültig damit abgefunden hatte, für ihn ein geduldetes Anhängsel zu sein. Die Eingangstür öffnete sich auf sein Klopfen hin. Ein bärtiger Mann in dunkler Kleidung erschien, im Hintergrund sah Adelind einen sittsam bedeckten Frauenkopf, der an der Schulter des Hausherrn vorbeispähte und sie alle einer neugierigen Musterung unterzog. Nach kurzem Wortwechsel wurden sie hineingebeten und in einen großen Raum mit kahlen weißen Wänden geführt, wo bereits mehrere Leute zum Abendmahl versammelt waren. Frauen und Männer saßen Seite an Seite, doch konnte Adelind keinerlei Anzeichen von heiterem Geplänkel bemerken. Sie löffelten Suppe aus hölzernen Schüsseln, flüsterten manchmal miteinander, aber ihre Blicke blieben dabei auf die Tafel gerichtet, als wollten sie jede Versuchung vermeiden. Es musste sich um sehr fromme Menschen handeln. Die Gauklertruppe wurde dennoch mit freundlichem Kopfnicken begrüßt. Da die anderen am Ende der Tafel Platz nahmen, folgten Adelind und Hildegard diesem Beispiel. Eine schweigsame Dienstmagd stellte Schüsseln vor ihnen auf, damit sie sich ebenfalls an der Gemüsebrühe bedienen konnten. Dazu gab es knusprige Brotfladen, Äpfel und Trauben standen als Nachspeise bereit, doch konnte Adelind nirgends auf dem Tisch ein Fleischgericht erkennen. Wieder schien sich eine Ahnung zu bestätigen.
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