Die Kiliansverschwörung: Historischer Roman (German Edition)
ihre Entdeckung zu konzentrieren. Kaum war dies geschehen, war da plötzlich
die Vermutung, bei Berengars Erzfeind könne es sich um ihren Halbbruder
handeln. Ohne dass sie es sich hätte erklären können. Eine Vermutung, gegen die
sie sich mit jeder Faser ihres Wesens sträubte. Wenn dem tatsächlich so war,
hieß dies nämlich nichts anderes, als dass …
Schwester Irmingardis erstarrte und musste ihre ganze
Kraft aufbieten, damit sie nicht in Tränen ausbrach.
Aber noch war sie nicht am Ende. Nur noch ein winziges
Detail, dann würde sie Gewissheit haben.
Die Frage war nur, wie sie damit umgehen würde.
Ein Kinderspiel, den richtigen Folianten zu finden.
Aber so ziemlich das genaue Gegenteil, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Obwohl
diese sie nicht unvorbereitet traf.
Chronica Monasterii Sancte Afrae Herbipolensis. Anno
Domini 1402. Liber I.
Montag, siebter Tag im August Anno Domini 1402, Tag
der heiligen Afra.
Eine andere, gleichsam geschmeidigere Schrift. Und
genau das, was Schwester Irmingardis befürchtet hatte: »In Gottes und der
Heiligen Dreifaltigkeit Namen – Amen! Mit dem heutigen Tage wurde der Jüngling
Demetrius, knapp zehn Jahre, Ziehsohn von Schwester Serafina, nunmehr fast 80
Jahre alt, der Obhut des Dominikanerkonvents zu Würzburg übergeben. Auf dass er
seiner Ziehmutter, den Benediktinerinnen zu St. Afra und dem Allmächtigen Ehre
mache in dem Bemühen, sein Leben dereinst dem Dienste an der Heiligen Mutter
Kirche zu …«
»Was in der Heiligen Jungfrau Namen habt Ihr hier zu
suchen, Schwester?!«
Der Schreck, vergleichbar mit Dutzenden spitzer
Nadeln, die gleichzeitig ihre Haut durchbohrten, kam so plötzlich, so
unerwartet, dass Schwester Irmingardis die vergilbte Seite beim Umblättern
herausriss und wie ein Schuldbekenntnis in den zitternden Händen hielt. Sie
brauchte sich nicht umzudrehen. Die Stimme in ihrem Rücken, so schneidend, dass
ein Schwall heißer Atemluft ihre Nackenhaare zu Berge stehen ließ, war ihr
wohlbekannt. Und zuwider wie kaum eine andere. Mochte ihre Ausrede noch so
einfallsreich sein: Schwester Irene, Priorin von Satans Gnaden, hinter
vorgehaltener Hand auch ›die Heimsuchung‹ genannt, würde keine Gnade kennen.
Vor allem nicht bei ihr, Schwester Irmingardis, die sie ihr vom ersten Tage an
ein Dorn im Auge gewesen war. »Habt Ihr mir etwas zu sagen, Schwester?!«,
schnarrte die Stimme in ihrem Rücken mit hörbarem Vergnügen. »Und keine
Ausflüchte, wenn ich bitten darf!«
Schwester Irmingardis lächelte resigniert, während
sich ihre zierliche Statur merklich zu straffen begann. Eine energische
Handbewegung, um sich die Tränen zu trocknen, dann die Worte: »Keine Angst,
Schwester, ich werde die Wahrheit sagen. Aber nicht Euch, denn Ihr würdet sie
nicht verstehen.«
*
Kiliansgruft im
Stift Neumünster,
eine halbe
Stunde vor dem Mittagsläuten (11.30 Uhr)
»Also, wenn Ihr mich fragt, Herr von Stetten: An Eurer
Stelle hätte ich den Leuten da draußen einfach die Wahrheit gesagt. Die sind
nämlich beileibe nicht so dumm, wie Ihr denkt!«
»Bedaure, Herr Vogt. Eine Weisung des Bischofs. Mehr
kann ich dazu wirklich nicht sagen.«
Fredegar von Stetten, für Reliquien verantwortlicher
Chorherr, war steif, spröde und hochfahrend. So recht nach dem Geschmack von
Berengar, wenn es um die Bestätigung seiner Antipathie gegenüber Klerikern
ging, hochadeligen allzumal. Und Berengar wäre nicht Berengar gewesen, hätte er
aus dieser seiner Abneigung einen Hehl gemacht: »Ich fürchte, Ihr werdet nicht
umhin kommen, Herr von Stetten!«, konnte er sich eine ironische Replik nicht
verkneifen.
»An Eurer Stelle wäre ich mir da nicht so sicher, Herr
Vogt.«
Berengar machte gute Miene zu bösem Spiel und sah den
Geistlichen mit der Hakennase unter der hohen Stirn herausfordernd an. »So, und
warum nicht?«, fragte er mit einer Lässigkeit, die in krassem Gegensatz zu
seiner Gemütsverfassung stand. Und beantwortete die Frage gleich selbst: »Für
den Fall, Herr von Stetten, dass bezüglich meiner Legitimation irgendwelche
Unklarheiten bestehen – Bruder Hilpert und meine Wenigkeit sind befugt,
sämtliche zur Wiedererlangung der Reliquien notwendigen Maßnahmen zu treffen.
Vernehmungen mit inbegriffen. Und darum meine Bitte, Eure einsilbigen Auskünfte
mit Inhalt zu füllen!«
Die Mundwinkel des Chorherrn, hauchdünn wie ein
Strich, inklusive der farblosen Oberlippe, begannen bedenklich zu zucken. Im
Angesicht des grimmig dreinblickenden Vogtes
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