Die Kinder von Estorea 02 - Der magische Bann
vor ihm auf. Ein Tsardonier. Einer von so vielen. Er betete für das Leben der Advokatin und bat um die Gnade Gottes.
Schmerz. Ein kurzer Schmerz.
12
848. Zyklus Gottes, 11. Tag des Solasab
15. Jahr des wahren Aufstiegs
D reißig Tage, und die Trauer war ungebrochen. Am fünfundzwanzigsten Tag des Solasauf war das Lebenslicht erloschen und würde nicht zurückkehren. Natürlich lebten die Menschen irgendwie weiter, aber sie waren innerlich und äußerlich verändert. Aus den Gesegneten waren die Verfluchten geworden.
Hesther Naravny öffnete die Fensterläden und ließ das Licht eines weiteren Tages voller Unsicherheit und Angst herein. So leer, ohne Lachen. Ohne all die Dinge, die Westfallen einst besessen hatte. Jetzt war es nicht mehr als eine Garnisonsstadt voll grauer, finsterer Gesichter. Gaben die Menschen dem Aufstieg die Schuld? Vermutlich. Wenigstens verzichteten sie darauf, es offen zu zeigen.
Hesther wandte sich vom Fenster ab und verließ ihr Zimmer. Die Villa kam ihr riesig und leer vor. Immer noch glaubte sie in den fernen Winkeln die Stimmen der jungen Aufgestiegenen zu hören. Immer noch rechnete sie jeden Augenblick damit, Ardol Kessians dröhnendes Organ in der Bibliothek oder dem Speisesaal zu vernehmen, oder vielleicht auch draußen, wo er früher sogar das Rauschen der Springbrunnen übertönt hatte. Seltsam, wie auf einmal kein Angehöriger der Autorität mehr zufällig einem anderen begegnete. Früher war es ganz mühelos geschehen, aber Kessians Tod hatte anscheinend das Band zwischen ihnen zerschnitten, und nun irrten sie ziellos umher.
Nichts gab es mehr, das ihr Herz erfreute. Nicht einmal die Laute der fünf Kinder, die möglicherweise die nächste Linie des Aufstiegs darstellten. Sie waren jetzt fast sieben Jahre alt und entwickelten sich gut. Andreas hatte ihre Ausbildung übernommen, und deshalb hatte Kessians Tod den Nachwuchs nicht so schwer getroffen wie die Erwachten. Die Kleinkinder, die noch in den Armen ihrer Mütter lagen, würden sein Lächeln und seine Kraft nie kennen lernen. So eine Tragödie. Vielleicht würde es eines Tages, wenn sie alt genug waren, möglich sein, voller Wärme und Liebe statt mit Verbitterung und Trauer über Kessian zu sprechen.
Hesther nahm ihren ganzen Mut zusammen und ging in die Stadt, um sich auf ihre tägliche Pilgerschaft zum Haus der Masken zu begeben. Es war ein Ritual, das ihr die Willenskraft schenkte, trotz der Bürde, die sie nun als Mutter des Aufstiegs trug, Tag für Tag weiterzumachen. Es war kein langer Spaziergang, doch jedes Mal erwachte ihre Trauer von Neuem und warf Fragen auf.
In der Stadt sägten und hämmerten die Menschen und riefen sich etwas zu. Wo sie nur hinschaute, entstanden unter den scharfen Augen von Vasselis und Harkov neue Bauten. Alle waren hässlich, auch wenn ihr die Ästhetik im Grunde einerlei war. Der Stil war von der Not diktiert und stellte alles auf den Kopf, woran sie bisher im Leben geglaubt hatte.
Draußen vor der Stadt bewachten fünf Türme jede Zufahrt auf dem Landweg. Wie anklagende Finger erhoben sich die aus dunklem Holz gebauten Zweckgebäude in der Landschaft. Wenn nötig, so hatte Harkov erklärt, konnte jeder Turm Bolzenschleudern und zwanzig Bogenschützen aufnehmen. Wäre es doch nur damit genug gewesen. Aber die Bedrohung war anscheinend so groß, dass Vasselis befohlen hatte, ganz Westfallen mit Holz und Stein zu schützen.
Der Bau des über dreifach mannshohen, verstärkten Palisadenzauns machte gute Fortschritte. Er zog sich von der Nordseite der Bucht in einem Bogen bis zu der Stelle, wo der Pfad zum Obstgarten aufstieg. Die dicken schweren Bretter waren behandelt worden, um Feuer zu widerstehen. In gewissen Abständen wurde er von Türmen unterbrochen, auf denen Ballisten oder Bolzenschleudern untergebracht werden konnten. Es war ein Gefängnis, das sie sich selbst gebaut hatten; jeden Tag schüttelte Hesther den Kopf und weigerte sich zu glauben, dass es wirklich nötig wäre. Gab es denn tatsächlich so viel Hass, dass sie in so großer Gefahr schwebten?
Sie hatten nicht das Recht, all dies nach Westfallen zu bringen. Sie hatten nicht das Recht, diese braven Leute Tag für Tag dieser Furcht und Unsicherheit auszusetzen. Hesther kämpfte ihren Ärger nieder und schritt den Hang zum Haus der Masken hinauf, wo sie, wie es oft der Fall war, auf Genna Kessian traf.
Hesther kniete sich neben ihr auf die Wiese, worauf Genna sich umdrehte, das Gesicht an Hesthers Brust
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