Die Kuppel des Himmels: Historischer Roman (German Edition)
sah er im Spiegel sein bleiches, gehetztes Gesicht. War er das? Er nahm ein Handtuch und trocknete sich Gesicht und Oberkörper ab. Er war es. Ein Söldner Gottes. Vielleicht sogar Gottes Teufel. Aber die Lämmer brauchen den Wolf. Ohne ihn würde der Übermut in ihnen die Oberhand gewinnen und die Ordnung, die sie zum Leben benötigen, zerstören. Er war der, den niemand wollte, den aber alle brauchten. Für den wahren Glauben hatte er gekämpft und gelitten – ja, das alles –, aber letztlich hatte er auch viel erreicht. Gleich würde er den letzten, den tödlichen Schlag gegen die Fedeli d’Amore führen und gegen das wiedererstarkte Heidentum, das drohte, Christi Kirche von innen heraus zu zerstören. Seine Mission hätte sich erfüllt, wenn die Priester zurückgekehrt wären zu christlicher Demut, zu Reinheit und Frömmigkeit und der Sünde in Worten und in Taten entsagten.
Giacomo streifte die Mönchskutte über und machte sich auf den Weg zur Audienz beim Papst. Frà Giacomo, der Diener Gottes und Kardinal der Römischen Kirche, war zufrieden mit seiner List. Genau genommen ging es ihm gar nicht um Frà Giocondo, sondern einzig und allein um Donato Bramante, den er vernichten wollte. Mit seinem Rücktritt würde der Architekt Julius demütigen, und das konnte der Papst ihm niemals vergeben. Wenn der häretische Baumeister erst aus dem Weg war, wollte sich Giacomo in Ruhe dem aufmüpfigen Bildhauer widmen. Im Gegensatz zu Bramante war Michelangelo kein Ketzer. In dem Künstler steckte ein echter Glauben, auch wenn ihn die Kunst verdreht und verkehrt hatte. Der Florentiner konnte nur zur wahren Frömmigkeit kommen, wenn er dem Hochmut der Kunst entsagte, und dazu würde Frà Giacomo ihn zwingen. Aber alles hübsch der Reihe nach. Zunächst musste er den Künstler irre an sich selbst werden lassen, bevor er ihn in seine Arme schließen durfte. Im Augenblick kämpfte der Bildhauer sich müde und verbrauchte die Geduld des Papstes, weil Giacomo ihn durch fortwährende Anschläge nervös, ja hysterisch machte.
35
Rom, Anno Domini 1506
Mit raschen Schritten überquerte der Kardinal den Vorhof der Basilika zum Übergang von der Peterskirche zum Vatikanpalast. Wie immer strömten ablasshungrige Pilger in die Kirche und andere ablasssatte aus dem Gotteshaus heraus. Das junge Mädchen, das sich in seiner Gewalt befand, hatte nichts damit zu tun. Sie tat ihm leid, denn sie hatte keine Schuld und keine Sünde auf sich geladen – dennoch würde sie sterben müssen. Und da sie unschuldig in den Himmel aufstieg, hätte ihr Tod den Rang eines Martyriums und sie würde von Gott als Heilige empfangen. Der Kardinal würde ihr die Beichte abnehmen, sie von ihren Sünden freisprechen und ihr die Sterbesakramente spenden. Dann würde er sie eigenhändig töten, um ihr unnötige Leiden zu ersparen, schnell und schmerzarm. Mit einem Stich mitten ins Herz. Er kannte die Stelle. Das war alles, was er für sie tun konnte. Dank seiner würde sie als Engel in den Himmel aufsteigen. Und vielleicht tat er ihr damit sogar einen Gefallen. Bei ihrer Herkunft war es nur allzu wahrscheinlich, dass sie, älter geworden, schuldig werden und ihre ewige Seligkeit verspielen würde.
Der Dominikaner spürte die Anspannung, die sich seiner bemächtigte. Ein ketzerischer Baumeister, das Haupt der neuen Heiden, würde stürzen und seinen Anhang mit sich ziehen. Und ein unschuldiges Mädchen würde noch an diesem Tag als Engel in den Himmel auffahren. Giacomos Blick schweifte hinüber zu den gegenläufigen Strömen der Pilger. Was wussten sie schon davon, mit welch zweifelhaften Methoden und wie hart das Gute erkämpft war, das ihnen hier geboten wurde?
Die kleine Prozession hatte die Kirche erreicht. Sogleich wurde die Tür geöffnet, und ein beleibter, kräftiger Zwerg winkte sie herein. »Bringt ihr endlich was zu fressen?«, fuhr er die Ankömmlinge mit kratziger Stimme an.
Dann traten sie in die Rotunde des Romulus mit ihren glatten, schmucklosen Wänden. Die Fresken hatte man scheinbar abgekratzt. Ascanio blieb dicht hinter den beiden Frauen. Er hielt die Augen auf den Boden geheftet und erblickte die Reste eines kostbaren Mosaiks. Er schielte unauffällig um sich. Rechts und links standen zwei kleinere Altäre mit einfachen Kreuzen. Geradeaus war der Eingang zur Kirche mit einem Türflügel zur Hälfte geöffnet.
»Stellt den Fraß hier ab und dann verschwindet«, knurrte der Dicke. Die Männer folgten der Aufforderung. Sie unterließen
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